Anoushka Shankar, ich freue mich auch deshalb, mit Ihnen zu sprechen, weil Sie an einer meiner Lieblingsplatten mitgewirkt haben: dem Album Chants Of India, das George Harrison 1996 mit Ihrem Vater produziert hat. Was ist Ihnen von damals in Erinnerung geblieben?
Die Aufnahmen ware eine ausgesprochen lehrreiche Erfahrung für mich. Ich war damals erst 15 und bin im gewissen Sinne ins kalte Wasser geschmissen worden. Ich habe den beiden bei allem möglichen geholfen und dann am Ende den Titel »Conductor & Assistant« bekommen. Es fiel mir immer leicht, die Musik meines Vaters zu lernen, deshalb kannte ich das ganze Material des Albums und habe geholfen, die Parts für die einzelnen Musiker zu schreiben. Ehe ich mich versah, habe ich einige der Sessions geleitet. Das war ein bisschen surreal, aber auch sehr aufregend und schön.
Jeder weiß, dass Ravi Shankar und George Harrison eng befreundet waren. Haben Sie ihn als Kind häufig getroffen?
Ja. Wobei es natürlich subjektiv ist, was »häufig« genau bedeutet. Aber er hat uns besucht und bei uns übernachtet, wir haben ihn besucht, wir sind zusammen in den Urlaub gefahren – es hing immer davon ab, was gerade so in unseren Leben los war. Er war wie ein Teil der Familie.
Hat George Harrison Ihnen Mut gemacht, als Ihre Karriere begann und Sie 1998 mit 17 Ihr erstes Album herausbrachten?
Jeder hat mir damals Mut gemacht, er tat in gewisser Weise das Gegenteil. Er wollte mich beschützen und hat sich, weil ich so jung war, eine Menge Sorgen gemacht. Bestimmt spielte es dabei eine Rolle, dass er selbst schon als junger Mann so extrem berühmt gewesen ist. Immer wieder hat er mich beiseite genommen und gefragt, ob ich wirklich glücklich sei und zufrieden mit der Art, wie sich alles entwickelt. So jemand an meiner Seite zu haben, war natürlich wundervoll. Das hat mir viel Sicherheit gegeben.
Wenn der eigene Vater der weltgrößte Sitar-Virtuose ist – kostet es da viel Überwindung, selbst mit dem Sitar-Spiel anzufangen?
Nein, ganz im Gegenteil. Das war die natürlichste Sache der Welt. Das Instrument stand rum und ich war einfach neugierig. In den ersten Jahren habe ich nicht besonders ernsthaft gespielt, später entschied ich mich dann, tiefer einzusteigen.
»Meine Beziehung zu Norah ist ganz anders als die Medien behauptet haben. Ich hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihr«
Es heißt, die Sitar sei ein sehr schwieriges Instrument. Wie war das mit dem Üben?
Meine Eltern haben mir ziemlich feste Strukturen vorgegeben. Von Natur aus war ich damals nicht so diszipliniert, jetzt bin ich es – wegen des stabilen Fundaments, das ich damals bekommen habe. Meine Eltern haben mir klar gemacht, dass sie mich keineswegs zwingen, Sitar zu lernen – dass ich das Instrument aber ernst nehmen und mich ihm wirklich widmen muss, wenn ich mich dafür entscheide. Im Nachhinein war das gut, von alleine hätte ich nie so viel geübt.
Ich nehme an, Sie haben sich täglich hingesetzt.
Sowieso. Ich musste jeden Tag üben, an Wochenenden länger als unter der Woche, außerdem waren wir jedes Jahr einige Monate in Indien, da habe ich mich dann noch konzentrierter mit der Sitar beschäftigt.
Auf Ihren ersten Alben haben Sie klassische indische Musik gespielt. Haben Sie sich der Tradition verpflichtet gefühlt?
Ich denke schon. Es gabe von Anfang an viele Angebote für Crossover-Projekte, aber dafür war ich noch nicht bereit. Mit Mitte zwanzig fühlte ich mich dann etwas sicherer und habe langsam angefangen, selbst zu komponieren und andere musikalische Stile zu entdecken.
Wie intensiv haben Sie das umfangreiche Werk Ihres Vaters studiert?
Ich beziehe mich sehr oft auf sein Werk – auf seinen Stil als Instrumentalist, aber auch auf seine vielen, vielen Kompositionen. Die Orchesterwerke, die indo-klassischen Kompositionen, seine Pionier-Arbeit mit indischen Ensembles, seine Jazz-beeinflussten Improvisationen. Je nachdem, woran ich gerade arbeite, studiere ich immer wieder Bereiche seines Werks und lasse mich inspirieren. Und ich entdecke immer wieder Neues.
Ihr Vater hat die klassische indische Musik im Westen überhaupt erst bekannt gemacht. Versteht das Publikum bei uns inzwischen die Feinheiten dieser Musik?
Ich denke, man kann heute sagen, dass in dieser Frage kein Unterschied mehr zwischen dem Publikum in Indien und im Westen besteht. Überall auf der Welt treffe ich Menschen, die die indische Musik sehr, sehr gut kennen – genauso wie Menschen, die sie lieben, ohne möglichst viel über sie zu wissen.
Vor zehn Jahren hatte Ihre Halbschwester Norah Jones auf einmal gigantischen Erfolg. In vielen Medien war danach von einer angeblichen Rivalität zwischen Ihnen und Norah die Rede.
Ja, aber das war alles ausgedacht. Meine Beziehung zu Norah ist ganz anders als die Medien behauptet haben. Ich habe sie zum ersten Mal getroffen, als ich 16 war, und hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihr.
Es heißt, Sie seien beide im Frühjahr in Varanasi gewesen, um Ihren im vergangenen Dezember mit 92 Jahren gestorbenen Vater zu bestatten.
Das stimmt, aber es war kein Begräbnis, sondern eine Feuerbestattung.
Nun ist Norah Jones auch auf drei Songs Ihres neuen Album Traces Of You (Deutsche Grammophon) zu hören.
Ja, und zwei davon handeln auch von unserem Vater. Beim Song »Unsaid« passierte etwas besonders schönes. An manchen Songs muss man sehr lange arbeiten, andere fließen einfach so heraus. »Unsaid« ist einer dieser wunderbaren, impusiven Songs. Ich flog nach New York, um mit Norah ins Studio zu gehen, im Flugzeug fiel mir plötzlich dieser Text ein. Am nächsten Tag habe ich ihn Norah gezeigt und wir haben an der Melodie gearbeitet. Auf einmal sang sie ein Motiv, das fast identisch mit dem Titelsong des Films Pather Panjali war, einer berühmten Melodie unseres Vaters Aber sie kannte diesen Song gar nicht. Ein schöner Moment.
Wie würden Sie das Konzept des Albums beschreiben?
Ich denke, es geht um den Fluß des Lebens. Die schmerzvollen Momente vergehen ebenso wie die freudigen. Dieser Fluß war mir sehr bewusst, als wir das Album gemacht haben, und so haben wir versucht, die einzelnen Stücke ineinander fließen zu lassen.
Welche Rolle spielte Ihr Produzent Nitin Sawhney?
Ohne ihn hätte ich das Album nicht machen können. Seine Kreativiät und seine musikalische Versiertheit über Stilgrenzen und einzelne Instrumente hinweg waren entscheidende Faktoren für das Album. Oft haben nur wir zwei im Studio an den Grundlagen gearbeitet und dann später die anderen Musiker dazu geholt.
In dem Song »In Jyoti's Name« geht es um sexuelle Gewalt – ein Thema, das in Indien auf der Tagesordnung steht, seit vor einem Jahr eine Studentin in Delhi nach einer brutalen Vergewaltigung ums Leben kam. Ist die Situation der Frauen in Indien tatsächlich noch schlechter als in vielen anderen Ländern?
Schwierige Frage. Gewalt gegen Frauen ist ein globales Problem, da bringt es wenig, einzelne Länder gegeneinander auszuspielen. Andererseits gibt es in Indien ohne Zweifel einige Besonderheiten, die dieses Problem nochmal verschärfen, und schon allein die extrem hohe Zahl von sexuellen Übergriffen ist erschreckend. Es ist gut, dass nun endlich darüber geredet wird, diese Diskussion fand bisher in Indien überhaupt nicht statt. Allerdings fällt mir auf, dass einige westliche Medien nun versuchen, das alles als indisches Problem darzustellen, weil man dadurch von Problemen ablenken kann, die im eigenen Land bestehen.
Es gab aber auch etliche tiefer gehende Versuche, die sexuelle Gewalt mit den besonderen Strukturen der indischen Gesellschaft zu erklären.
Ich bin ebenfalls der Meinung, dass viele andere gesellschaftliche Bereiche mit diesem Thema zu tun haben: Erziehung, Armut, der Hang dazu, Jungen zu bevorzugen, die Sexualität in den Medien, auch das Justizsystem und die korrupte Polizei und viele andere Dinge. Und bei der sexuellen Gewalt spielt es natürlich auch eine Rolle, dass Indien generell ein sehr gewalttätiges Land ist. Es gibt viele wirklich schreckliche Gewaltverbrechen, von denen kaum noch jemand wirklich Notiz nimmt. Was mir ein wenig Hoffnung macht, ist die wirklich intensive Diskussion über diese Probleme, die sich in den letzten Monaten entwickelt hat. Ich hoffe, dass sich daraus nachhaltige Veränderungen ergeben – auch wenn es Generationen dauern mag.
Was wäre denn Ihrer Meinung nach die wichtigste Maßnahme?
Ich denke, in den indischen Schulen müsste landesweite Sexualerziehung eingeführt werden, um den Menschen bewusst zu machen, dass Sexualität auf beiderseitigem Einverständnis beruhen muss und dass man sich auch Gedanken um die Verhütung machen sollte. Und ich denke, es müsste auch mehr Therapieangebote für Frauen geben, die Opfer eines Gewaltverbrechens geworden sind – gerade auch in den Dörfern auf dem Land.
Vor einigen Monaten haben Sie selbst enthüllt, als Kind von einem Freund der Familie sexuell missbraucht worden zu sein. Wie waren die Reaktionen auf dieses Bekenntnis?
Die Reaktionen waren enorm. Viel größer als ich erwartet hatte – kurzzeitig hat mich das verunsichert. Wenn du auf einmal denkst, die ganze Welt blickt auf dich und deine Verletzlichkeit, dann kann das schon seltsam sein. Aber ich war mir immer sicher, dass das der richtige Zeitpunkt war, um darüber zu reden. Es war nicht so, dass ich mir immer vorgenommen hatte, dieses Geheimnis irgendwann zu lüften. Aber als nun die ganze Welt über sexuelle Gewalt in Indien redete, fühlte ich, dass ich als relativ bekannte indische Frau eine Rolle in dieser Geschichte habe. Es gab Reaktionen von Frauen und Mädchen in Indien, denen mein Bekenntnis vielleicht ein bisschen geholfen hat – am Ende des Tages hoffte ich, so etwas zu erreichen.
Sind Sie zum Vorbild geworden?
Ich möchte kein Vorbild sein. Aber ein Grund, warum der Angriff auf das arme Mädchen solche Schlagzeilen gemacht hat, war ja, dass sie aus der Mittelklasse kam und studiert hatte. In unserer Kultur möchte man die Dinge gern unter den Teppich kehren – und das wird schwieriger, wenn es auch jemanden wie mich betrifft, der aus einer bekannten Familie kommt.