Anfang der Achtziger bin ich George Clinton zum ersten Mal begegnet. Ich war zwölf oder 13 Jahre alt und zog beim Kirchenbasar ein ungewöhnliches Doppelalbum aus der Plattenkiste. Parliament Live stand darauf, auf dem Cover war ein Mann in einem Hermelinmantel zu sehen, der mit majestätischer Geste einer Art Ufo entstieg – George Clinton. Der Mann sah exzentrisch aus, ganz anders als die Typen auf meinen Rockplatten, aber auch witzig und irgendwie charismatisch. Die Platte kostete zwei Mark, die hatte ich übrig. So ging es los.
Nun steht George Clinton vor mir, einen Meter entfernt. Gerade hat er die kleine Bühne im Studio A des Londoner Studiokomplexes »Metropolis« erklommen, so beginnt eine Veranstaltung namens »Metropolis Session with George Clinton«: Drei Tage lang haben rund hundert Fans Gelegenheit, Clinton und seine Band aus »nächster Nähe« zu erleben, so hieß es in der Ankündigung. Clinton scheint die intime Atmosphäre jedenfalls zu gefallen. Er lässt seinen Blick über die Zuschauer schweifen, die sich in den Raum quetschen, und ruft »This is gonna be fun!« Zur Hälfte besteht das Publikum aus Hipstern mit Trainingsjacken, die andere Hälfte dürfte Clintons Karriere ausweislich ihrer grauen Haare schon seit den Siebzigerjahren verfolgen; Frauen fehlen fast komplett. Dann beginnen die P-Funk All Stars, Clintons Band, zu spielen, und sobald der Groove von Red Hot Mama aus den Lautsprechern dröhnt, ist der ganze Raum in Bewegung. »Bring on the funk, George!«, ruft einer der Grauhaarigen und macht einen Freudensprung.
Da ist er, der zentrale Begriff für George Clintons Karriere – Funk. Was war das noch mal? Eigentlich eine von James Brown erfundene, sehr rhythmusbetonte Spielart der amerikanischen Rhythm & Blues-Musik – Sex Machine, Sie wissen schon. George Clinton hat James Browns musikalische Ideen in den Siebzigerjahren aufgegriffen, aber noch ordentlich was draufgesattelt: Auf etlichen Hitalben seiner Bands Parliament und Funkadelic hat er deutlich gemacht, dass der Funk für ihn eine Art Pfad zu einem besseren, witzigeren, ungehemmteren Leben ist.
Als ich damals die Platte auf dem Basar kaufte, habe ich das nicht verstanden, die Musik und der Kosmos, in den sie eingebettet war, blieben mir fremd. Erst nach und nach habe ich mich mittels der Songtexte und der bildgewaltigen Plattencover in Clintons Welt eingearbeitet – eine Welt, in der Außerirdische, Superhelden und erwachsene Männer in Windeln auftreten, in der es im Kern aber um die Selbstermächtigung der Afro-Amerikaner, kosmische Einheit und die Suche nach einer mystischen Lebenskraft geht. In zwei Sätzen angerissen, hört sich das verquast und auch ein bisschen spinnert an, wobei man von der Philosophie Heideggers sicherlich dasselbe sagen kann. Ich habe jedenfalls irgendwann verstanden, wie ergiebig Clintons Pop-Mythologie ist und wie einflussreich seine Ideen bis heute sind.
Im Kontrollraum des Studios betrachtet Nathan Hoy durch eine Glasscheibe, wie die Soulsängerin Joss Stone zu George Clinton auf die Bühne kommt. Hoy ist ein smarter Typ im schwarzen Anzug, seine offizielle Jobbeschreibung bei den Metropolis Studios lautet »Resident Genius«. »Die Musikindustrie verändert sich, und wir müssen uns anpassen«, sagt er. Die Zeiten, wo sich Bands monatelang im Studio einmieten würden, seien vorbei, neue Vermarktungsideen müssten her. So kam man darauf, Künstler für ein Wochenende mit ihren Super-Fans zusammenzubringen. Doch die Nähe hat ihren Preis: Die Eintrittskarte fürs Konzert heute Abend kostet zum Beispiel 249 Pfund. »Es gibt genug leidenschaftliche Fans«, glaubt Hoy, »die dennoch an dieser Erfahrung teilhaben wollen.«
Unten im Studio sind Clinton und Band inzwischen richtig in Fahrt gekommen. Man merkt dem Konzert nicht an, dass sie heute nur für 100 Leute spielen, teilweise drängen sich bis zu 15 Musiker auf der Bühne, ein Hit folgt auf den nächsten. Nach zwei Stunden ruft Clinton auf einmal »We gonna get loud now«, als ob sie das vorher nicht schon gewesen wären, und gibt in der letzten Viertelstunde noch mal richtig Gas. Als er schließlich von der Bühne geführt wird, bleibt ein Haufen Fans mit verrutschten Frisuren, durchgeschwitzten T-Shirts und glücklichen Mienen zurück. Viele bedanken sich noch bei den Musikern, auch ein älterer Herr namens Matt, der seinen 16-jährigen Sohn mitgebracht hat. Nachdem beide dem Gitarristen Michael Hampton die Hand geschüttelt haben, bekennt der Vater: »Seit den frühen Siebzigerjahren bin ich P-Funk-Fan. Meine Kinder sind verpflichtet, sich P-Funk-Platten anhören, das ist eine Regel bei uns zu Hause. Was für ein toller Abend!«
Ich bin nicht ganz so begeistert. Natürlich war es interessant, Clinton und Band aus der Nähe zu erleben. Aber letztlich war es ein normales Konzert, bloß in einem kleineren Rahmen; wirklich an Clinton rankommen konnte man nicht. Gerne wäre ich auch am nächsten Abend hier im Studio, da nehmen Clinton und Band ein Live-Album auf und einige Fans dürfen mitten zwischen denn Musikern sitzen. Die Eintrittskarte kostet allerdings 800 Pfund – zu viel.
So gehe ich erst wieder am Sonntagmittag ins Studio zurück, zum Höhepunkt des Wochenendes: der Gesprächsrunde mit George Clinton. Davor haben die Inhaber eines knapp 300 Pfund teuren Gold-Tickets die Gelegenheit, Clinton die Hand zu schütteln, ein Foto zu machen und mit ihm zu plaudern – auch ich.
Von Clinton ist noch nichts zu sehen, aber einer seiner Gitarristen taucht auf. Oft sind Musiker wenig erfreut, wenn sie von Fans angequatscht werden, hier ist das anders. Als ich den Gitarristen anspreche, stellt sich heraus, dass es sich um Garry Shider Jr. handelt, den Sohn des legendären Garry Shider, in den Siebzigerjahren eine der prägenden Figuren des P-Funk-Kosmos. »Ich war schon mit George auf Tour, bevor ich laufen konnte«, erzählt er. Als sein Vater vor vier Jahren an Krebs starb, nahm er dessen Platz bei den P-Funk All Stars ein: »Wir sind eine große Familie.«
Es ist so weit. Die Inhaber der Gold-Tickets sammeln sich für ihre Audienz bei George Clinton vor der Studiotür; jeder hat ihn ein paar Minuten für sich allein. Vor mir sind zwei Holländer dran, Musiker, die Clinton fürs Foto eine Wollmütze ihrer Band Octave Pussy überstülpen – er hat gute Laune und macht alles mit.
Dann bin ich an der Reihe. »Lassen Sie uns über den Funk reden«, sage ich.
»Gern«, antwortet Clinton. Er spricht mit einem heiseren Flüstern, die beiden Auftritte an zwei Tagen haben seine Stimme strapaziert.
»Ist Funk ein Musikstil oder eine Lebenseinstellung?«, frage ich.
»Eine Lebenseinstellung, eine Philosophie und vieles mehr.«
Und wie kann man diese Lebenseinstellung umreißen?
»Do the best you can – and funk it.«
Funk it – was bedeutet das?
»Ganz einfach: sei funky.«
Wie werde ich funky?
»Besorg dir ein paar P-Funk-Platten und tanz’ zu ihnen. Dieses Gefühl musst du in dich reinbekommen. Jeder kann funky sein – auch du.«
Dann redet er noch davon, bald ins Weltall fliegen zu wollen, um den Funk zurück zum Planeten Sirius zu bringen, unterschreibt meine LP Mothership Connection, und schon ist der nächste dran.
Etwas benommen trete ich aus dem Halbdunkel des Studios hinaus. »Jeder kann funky sein – auch du«, hat George Clinton zu mir gesagt. Ich fühle mich wie ein Katholik, den der Papst gesegnet hat. Spätestens jetzt hat sich der Besuch hier gelohnt.
Bei der anschließenden Gesprächsrunde erweist sich Clinton als ausgesprochen eloquent. Wieder quetschen sich 100 Leute ins Studio A, diesmal auf Plastikstühlen. Ich sitze in der ersten Reihe, Clinton thront vor mir und erzählt von seinen Anfangsjahren als Friseur (»Ich habe die Leute cool gemacht«), vom Ursprung seines Sounds (»Wir haben unsere Verstärker bis zum Anschlag aufgedreht«) und von den jüngeren Bands, die er beeinflusst hat (»Statt jetzt in London zu sein, hätte ich auch mit den Red Hot Chili Peppers beim Super Bowl auftreten können«). Dann darf das Publikum Fragen stellen und die Stimmung wird regelrecht ausgelassen, so witzig sind seine Antworten. Zum Beispiel als es um den Ursprung des Songs Atomic Dog geht: »Ich weiß nicht mehr, was ich an dem Tag genommen hatte, aber es war eine kräftige Dosis und ich habe Scheiße gemacht, die ich noch nie vorher gemacht hatte.« Oder als er nach den vielen Rappern gefragt wird, die seine Songs gesampelt haben: »Bin total dafür. Als mir De La Soul einen Scheck über 100 000 Dollar überreicht haben, wusste ich, das gefällt mir.«
Jeder, der möchte, darf seine Frage loswerden. Die Nähe, die das ganze Wochenende versprochen wurde – hier ist sie. Als Fan träumt man davon, den Star einmal für sich allein zu haben und ihm das sagen zu können, was man immer sagen wollte, doch in der Regel wird dieser Traum niemals wahr. Heute doch, und dementsprechend glücklich sind die Fans im Raum, als sie George Clinton nach fast zwei Stunden mit donnerndem Applaus und einer standing ovation verabschieden.
Also, liebe Leute von den Metropolis Studios, als nächstes bitte Bob Dylan einladen.
George Clinton,
geboren 1941, ist gelernter Friseur und probte mit seiner Gesangsgruppe The Parliaments schon Ende der Fünfziger in seinem Salon in Plainfield, New Jersey. In den Sechzigern schrieb er Songs für Tamla-Motown, ab 1970 entwickelte er mit den Bands Parliament und Funkadelic eine neue, mit Rock-Elementen versetzte Variante der Funkmusik, die er P-Funk nannte (für »Pure Funk«). Nach großen Erfolgen in den Siebzigern ging es in den Achtzigern mit seiner Karriere bergab, er war aber immer noch populär genug, um mit Künstlern wie Prince, Tupac und den Red Hot Chili Peppers zu arbeiten. 2012 verlieh ihm das Berklee College of Music die Ehrendoktorwürde, bis heute ist er regelmäßig mit seinen P-Funk All Stars auf Tour.