»Jede Form von authentischer amerikanischer Musik hat ihren Urspung im Blues«

Der Produzent Joe Henry über seine berühmte Schwägerin Madonna, die Zusammenarbeit mit Allen Toussaint und Solomon Burke – und die Frage, wie man das musikalische Erbe verwenden kann, um als Musiker voranzukommen.

Foto: Lauren Dukoff

Warum hat Ihr neues Album Blood From Stars so ein düsteres Cover?
Ich finde es nicht düster – für mich sieht es eher elektrisch aus. Das Foto ist in den Vierzigern in einem Stahlwerk in Pittsburgh aufgenommen worden. Als ich es zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich, die Arbeiter dort brechen die Erdkruste auf, um nach Licht zu schürfen.

Vielleicht hat mich der Albumtitel in eine apokalyptische Stimmung versetzt.
Für mich geht es darum, dass die Figuren auf dem Album alle um etwas kämpfen. Ich denke, es ist ein menschlicher Urinstinkt, inmitten all unserer Plagen den Blick zum Himmel zu richten und sich eine bessere Zukunft vorzustellen. Man sucht in den Sternen nach Inspiration und versucht dann, diese himmlischen Dinge irdisch zu machen, menschlich. Deshalb der Titel: Blood From Stars.

Ihre Platte hat einen auffällig eigenständigen Sound. Wie kann man so etwas heute noch erreichen, wo schon so viel Musik erschienen ist?
Bei jeder Platte, die ich mache, suche ich nach einem neuen Zugang. Aber ich suche nicht bewusst nach einem neuen Sound. Ich versuche, den Songs zu dienen, und das führt mich in der Regel zu Orten, an denen ich vorher noch nicht war.

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Wie wichtig sind dabei die Musiker?
Wenn ich Jay Bellerose im Studio habe, meinen Lieblingsschlagzeuger, dann kann ich sicher sein, dass er sehr genau hinhören und sehr spezifische Klangfarben erzeugen wird.

Das gilt bestimmt auch für den Gitarristen Marc Ribot.
Ja, er ist dafür ein fantastisches Beispiel. Marc hat einen einzigartigen musikalischen Verstand. Auch wenn er sehr elektrisch und kantig spielt, hat sein Klang immer etwas romantisches. Sein Spiel ist stets mit einer gewissen Menschlichkeit temperiert.

»Mich interessiert es nicht zurückzuschauen. Aber ich glaube daran, das musikalische Erbe zu verwenden, um nach vorne zu kommen«

Ich habe den Eindruck, dass Blood From Stars auf eher unterbewusste Weise stark vom Blues beeinflusst ist. Wie wichtig ist der Blues für Sie?
Jede Form von authentischer amerikanischer Musik hat ihren Urspung im Blues. Das ist unser grundlegendstes Vokabular. Ich beziehe mich beim Komponieren auf die Blues-Form, so wie ein Dichter sich auf die Sonett-Form bezieht. Ich nutze die Form, weil große Kraft in ihr steckt. Ich habe nie zu den Musikern gesagt, so Leute, jetzt spielen wir einen Blues; aber der alte Countryblues war mir stets präsent: Robert Johnson, Blind Blake, Skip James, Willie McTell. Deren Platten zu hören, ist für mich, wie Keats oder William Blake zu lesen. Es geht um Liebe, Sex, Leben, Gott und Tod – alles im selben Raum. Auf diese Tonalität des Blues habe ich mich bezogen.

Ich finde, damit kommen Sie dem Wesen des Blues viel näher als vieles andere, was heute als Blues verkauft.
Den Blues nachzuspielen ist für mich eine Sackgasse, ein lebloses Unterfangen. Anders ist es, wenn man aus dem Blues und seiner musikalischen Struktur Impulse zieht. Der Blues ist ein total authentischer Ort, um irgendetwas anzufangen, und so gesehen weiterhin eine lebendige Form. Aber man wird kein lebendiges Album machen, wenn man einfach nur eine Bluesplatte nachspielt, die jemand anders einst aufgenommen hat.

Der Blues als Kraftquelle wird wieder wichtiger, weil es eine neue Sehnsucht nach Musik gibt, die auf irgendeine Weise verwurzelt ist.
Mich interessiert es nicht zurückzuschauen. Aber ich glaube daran, das musikalische Erbe zu verwenden, um nach vorne zu kommen. Um eine eigene, moderne Stimme als Songwriter zu entwickeln, muss man auf das bestehende Vokabular zurückgreifen. Man muss es benutzen, um etwas eigenes zu sagen, das in der Gegenwart lebendig ist.

Sehr beeindruckt bin ich diesmal von Ihrem Gesang: sehr soulful!
Vielen Dank, das ist mein Ziel. Jeder Sänger, der uns berührt, egal in welchem Genre, macht Soulmusik. Jede Musik, die Bestand hat, ist soulful; damit meine ich, dass sie ihre Menschlichkeit zur Schau stellt.

Sie haben in den letzten Jahren einige Platten mit echten Soulsängern produziert. Die erste war Don’t Give Up On Me von Solomon Burke, oder?
Ja, und diese Platte ist ein gutes Beispiel für das, über was wir reden. Immer, wenn ich die Möglichkeit habe, mit »legendären« Musikern zu arbeiten, habe ich das Ziel, etwas zu machen, das total authentisch für den Künstler ist, aber auch neu und einzigartig. Auf keinen Fall möchte ich etwas reproduzieren, das der Künstler früher aufgenommen hat. In Solomons Fall hat das, glaube ich, gut funktioniert. Wir sind nicht in die Fake-Soul-Falle getappt, sondern haben einfach sehr gute Songs rausgesucht und Musiker gehabt, die soulful spielen.

Zum Beispiel den Organisten Rudy Copeland, der dem Album und auch Solomon Burkes Konzerten ein spezielles Gospel-Flair verleiht.
Dass Rudy Copeland dabei ist, war eine glückliche Fügung in allerletzter Minute. Eigentlich sollte Billy Preston auf dem Album spielen. Wir waren schon im Studio und haben die Instrumente aufgebaut, als seine Schwester anrief und sagte, dass er krank sei und unmöglich aus North Carolina anreisen könne. Solomon sagte: »Es gibt da diesen großartigen Organisten in meiner Kirche, er heißt Rudy. Den können wir anrufen.« Ich zögerte, denn ich wollte für die Aufnahmen einen wirklichen Ausnahmemusiker. Also habe ich meinen Freund Jim Keltner angerufen, den legendären Drummer, und habe ihn gefragt, wer Billy Preston ersetzen könne. Jim sagte: »Da gibt es diesen Typen namens Rudy Copeland, der hat schon mit Marvin Gaye gespielt.« Okay, dachte ich, die Mächte des Universum wollen anscheinend, dass ich Rudy anrufe. Und er war wunderbar! Er spielt mit viel Seele und großem Flair.

Vor vier Jahren haben Sie das Comeback-Album von Bettye Lavette produziert, einer Soulsängerin, die trotz einiger genialer Singles in den Sechzigern stets bestenfalls ein Geheimtipp blieb.
Das stimmt, sie wurde auf fast schon kriminelle Weise missachtet und musste enorme Härte und Geringschätzung ertragen. Ich weiß nicht, wie sie das überstanden hat. Auf das Album bin ich sehr stolz. Ich glaube, es hat ihre Musik vielen Leuten erst nahegebracht. Das Album entspricht ihr, denn die Musik ist dunkel und sehr rau.

Außerdem haben Sie mehrere Platten mit Allen Toussaint gemacht, selbst ein ausgesprochen erfolgreicher und erfahrener Produzent. Wie hat er im Studio auf Ihre Anweisungen reagiert?
Zu Allen habe ich eine Beziehung wie zu niemandem sonst. Meine Frau sagt oft zu mir: Du wirst in deinem Leben nie wieder eine solche Freundschaft haben. Ich habe fünf Alben mit ihm gemacht und dabei unendlich viel von ihm gelernt. Trotz seiner Geschichte als Erfolgsproduzent ist er sehr großherzig im Bezug auf Anweisungen und Vorschläge. Ich glaube, das liegt zum Teil an seiner Persönlichkeit, zum anderen Teil aber auch daran, dass er ganz genau weiß, wie der Job eines Produzenten aussieht.

Waren Sie nervös, als Sie ihm erstmals begegnet sind?
Ich habe ein Album mit ihm und Elvis Costello gemacht und mir im Vorfeld dieser Produktion den Kopf darüber zerbrochen, was wohl mein Beitrag sein könnte. Beide sind auch Produzenten, haben ein gutes Verhältnis, hatten ihre eigenen Musiker dabei. Was sollte ich da noch tun? Ohne dass ich etwas gesagt hätte, hat Allen meine Verunsicherung bemerkt und mich gleich am ersten Tag einen Moment beiseite genommen. Er hat mich daran erinnert, dass ich nicht durch Zufall dorthin gelangt sei und nun die Führung übernehmen müsse. »Wir alle sind wegen dir hier«, hat er betont, »vergiss das nicht.« Das war sehr großherzig von ihm. Seitdem habe ich mit ihm viele solche Momente erlebt. Er ist nicht nur ein großartiger Musiker, sondern auch ein einzigartiger Mensch.

Im April ist Allen Toussaint Album The Bright Mississippi erschienen, ebenfalls von Ihnen produziert. Ich finde das Album ganz fantastisch und kann allenfalls bemängeln, dass es schon nach einer Stunde vorüber ist. Ich finde, von Allen Toussaint sollte man hundert Stunden aufnehmen – die Musik scheint einfach aus ihm herauszufließen.
Ja, seine Musikalität ist wie fließend Wasser: Man öffnet den Hahn, und sie sprudelt heraus. Ihm gehen nie die Ideen aus und sein Spiel klingt immer lebendig. Wir hätten viel mehr aufnehmen können, aber die Plattenfirma war besorgt, dass bereits eine Stunde zu lange für eine Platte sei, die in erster Linie instrumental ist. Es freut mich sehr, dass Sie sagen, die Platte müsse noch viel länger sein. Ich bin auf alle Platten stolz, die ich mache, aber die Arbeit an diesem Album war ganz besonders erfüllend!

An was für Projekten arbeiten Sie derzeit?
Letzte Woche habe ich eine Platte mit Mose Allison aufgenommen. Die mixe ich gerade; wird ein schönes Album, glaube ich. Und ich beginne gerade ein größeres Projekt mit Harry Belefonte.

Wow! Das ist doch schon ewig her, dass er ein neues Album gemacht hat.
Ja, wahrscheinlich 20 Jahre. Er ist ein außergewöhlicher Mann und Musiker. Eine große Ehre, mit ihm zusammenzuarbeiten.

Sonst noch etwas?
Es gibt ein junges afro-amerikanisches Trio, die Carolina Chocolate Drops, die oldtime country music spielen.

Die habe ich dieses Jahr beim Merlefest  gesehen.
Da sind sie schon oft aufgetreten. Ich habe ein Album für sie produziert, das im Januar herauskommen wird. Die Platte ist schon länger fertig, aber die Sängerin hat ein Baby gekriegt, deswegen wurde alles nach hinten verschoben.

Sie sind mit der Schwester von Madonna verheiratet. Werden Sie einmal eine Platte mit ihrer berühmten Schwägerin produzieren?
Wir haben darüber geredet. Ich würde es gerne tun, und sie weiß das. Es wäre für sie etwas neues, und für mich auch. Und das ist immer reizvoll. Wir haben ein paar Songs zusammen geschrieben und haben ein gutes Arbeitssverhältnis. Ich glaube, wir werden es irgendwann machen. Mir kommt es vor, als würden wir darauf hinarbeiten.

Ich finde, das wäre genau die Richtungsänderung, die sie nötig hat.
Will you forgive for agreeing with you?