Über das musikalische Wirken von Allen Toussaint könnte man ein Buch schreiben, oder vielleicht besser eine ganze Enzyklopädie. Das erste Kapitel würde seine Anfänge im New-Orleans-R&B der Fünfzigerjahre beschreiben, als er noch ein Teenager war und dennoch schon bei Fats-Domino-Aufnahmen die Klavierparts des Stars übernahm, wenn der mal wieder auf Tour und nicht greifbar war. Das zweite Kapitel würde davon handeln, wie er als Produzent für Minit Records die Goldene Ära des New-Orleans-R&B prägte und mit Künstlern wie Aaron Neville, Lee Dorsey und Irma Thomas einen Klassiker nach dem anderen aufnahm. Im nächsten Kapitel erfände er dann zusammen mit den Meters die bis heute radikalste Interpretation des Funk, weitere Kapitel handelten von dem mit Labelle aufgenommenem Welthit »Lady Marmelade« und seiner Tätigkeit als gefragter Arrangeur im Pop und Rock.
Nach so vielen Erfolgen war Allen Toussaint schon in den Neunziger die graue Eminenz der Musikszene von New Orleans und auch ein bisschen weniger aktivals früher - das alles änderte sich mit dem Hurrikan Katrina, der sein Haus und sein Studio zerstörte. Er wurde so etwas wie der musikalische Botschafter seiner Heimatstadt und veröffentlichte mehrere exzellente Alben, für die er aus seinem reichen musikalischen Erfahrungsschatz schöpfte. Vor einigen Jahren sagte mir der Produzent Joe Henry, der mehrmals mit Allen Toussaint zusammengearbeitet hat, folgendes über ihn: »Seine Musikalität ist wie fließend Wasser: Man öffnet den Hahn, und sie sprudelt heraus.« Ich musste an diese Worte denken, als ich Tousaints neues Album Songbook (Rounder/Universal) hörte. Es ist eine Solo-Live-Aufnahme, Toussaint spielt einige seiner Lieder im intimen Rahmen eines New Yorker Clubs mit viel Gefühl und zeitloser Eleganz. Man hört sofort, dass hier einer der großen Meister am Werk ist. Vor einigen Wochen hatte ich Gelegenheit, mit ihm zu telefonieren.
Mr. Toussaint, Sie stammen aus New Orleans und haben Ihre lange Karriere Mitte der Fünfzigerjahre in der Rhythm & Blues-Szene Ihrer Heimatstadt begonnen. Haben Sie damals auch eine Verbindung zu älteren Musikstilen gespürt, zum Beispiel zum traditionellen New-Orleans-Jazz?
Zum Jazz weniger. Zu älterer Musik aber schon. Als kleiner Junge habe ich alles nachgespielt, was im Radio kam – populäre Schlager, Country- und Hillbilly-Songs, auch Boogie Woogie, Blues und Gospel. Den New-Orleans-Jazz kannte ich natürlich auch, aber er war nicht meine große Stärke.
Stimmt es eigentlich, dass schon in Ihrer ersten Schülerband der geniale Bluesgitarrist Snooks Eaglin mitgespielt hat?
Ja, mit 13 haben wir in der Nachbarschaft eine Band gegründet, Snooks Eaglin war unser Gitarrist. Er war ein echtes Wunderkind. Ich hatte ihn sogar schon ein paar Jahre zuvor im Radio gehört. Da war er sieben und spielte wie ein Zwanzigjähriger. Er hat mich schon damals sehr beeindruckt, umso toller war es, dass er in unserer Band mitspielte. Snooks war ein Genie, daran gibt es keinen Zweifel.
Den Pianisten James Booker haben Sie ähnlich früh kennengelernt, richtig?
Er war auf derselben Schule wie ich, allerdings ein Jahr unter mir. Wir trafen uns, als ich 13 und er zwölf war. Auch er war ein echtes Wunderkind. Er beherrschte das klassische Piano-Repertoire mit allen Nuancen, die die Komponisten im Sinn gehabt haben, spielte aber genauso gut Jazz und Blues. Als ich ihn traf, hatte er einen Gipsarm, aus dem vorne nur drei Finger rausschauten. Aber ich sage Ihnen, selbst mit diesen drei Fingern hat er Klänge aus dem Klavier rausgeholt, von denen ich total geplättet war. Und als der Gips dann ab war, spielte er natürlich nochmal besser. Zeit seines Lebens hat er ein unglaublich hohes musikalisches Niveau gehalten und wir waren seit diesem Treffen in unseren Kindheit befreundet.
Klingt so, als ob Sie in einem fruchtbaren musikalischen Klima aufgewachsen seien!
Ja, auf jeden Fall. Die Stadt New Orleans hat ihre Musiker immer gehegt und gepflegt.
Aber der Pianist, der Sie am stärksten beeinflusst hat, dürfte Professor Longhair sein.
Ja, zumindest was Pianisten betrifft, die man auf Schallplatten hören kann. Ich hatte schon Blues und Boogie Woogie gespielt, bevor ich Professor Longhair gehört hatte, aber als das dann der Fall war, durchfuhr mich der stärkste musikalische Schock, den ich je verspürt habe. Ich wurde sein Schüler und habe alles genau nachgespielt, was er sich ausgedacht hat. Es war eine wunderbare Sache für mich, seine Musik in all ihrem Einfallsreichtum kennenzulernen und zu verinnerlichen.
Nun mögen dies auch Menschen lesen, die Professor Longhair gar nicht kennen. Wie würden Sie beschreiben, was so besonders an ihm war?
Hm, gar nicht so leicht. Er hatte auf jeden Fall einen sehr eigenwilligen Stil, der wenig mit dem Blues und Boogie Woogie zu tun hatte, den man überall hörte. In der linken Hand hatte er ein Rhumba-Feeling, rechts spielte er Jump-Up-Blues. Beides hat er vermischt – das Ergebnis war ganz außergewöhnlich. Man kann sagen, dass alles an ihm originell war, auch seine Ausdrucksweise und seine heisere Stimme. Wenn er sang, dann hat er oft eine Note normal und die nächste dann eine Oktave tiefer gesungen, zu seinem eigenen Vergnügen. Seine Musik hörte sich nicht so an, als sei sie auf natürliche Weise aus vorherigen Stilen hervorgegangen – sein Stil kam aus dem Nichts und klang total frisch und aufregend.
Wann haben Sie gemerkt, dass Sie lieber im Studio Songs arrangieren und produzieren, als selbst auf der Bühne zu stehen? Ziemlich früh. Schon in der Flamingo Band, das war die Schülerband mit Snooks Eaglin, habe ich mich um die Arrangements gekümmert und teilweise sogar verschiedene Parts aufgeschrieben. Ich begann also schon als Teenager darauf zu achten, wie Stücke arrangiert sind und dies auch selbst auszuprobieren. Mit 16 wurde ich als Studiomusiker engagiert, weil ich die Stile verschiedener Pianisten imitieren konnte und als jemand galt, der über die neuesten Trends informiert ist; da konnte ich erste Studio-Erfahrung sammeln. 1960 wurde ich dann von Minit Records als Produzent engagiert, das war der eigentliche Beginn meiner Studiokarriere.
»Katrina hat nahezu alles zerstört, was ich besaß. Auch viele der alten Aufnahmen. In den Sea-Saint-Studios gab es einen Raum voller Tapes, da stand alles unter Wasser«
Mit Künstlern wie Irma Thomas, Aaron Neville, Lee Dorsey und Jessie Hill haben Sie für Minit zahlreiche Hits produziert – gibt es einen Song, der für Sie diese Ära definiert?
Die frühen Lieder von Irma Thomas wie »It’s Raining« und »Ruler Of My Heart« bedeuten mir immer noch sehr viel, genauso wie die frühen Aufnahmen von Aaron Neville und Chris Kenner, Titel wie »I Like It Like That« und »Land Of 1000 Dances«. Aber unterm Strich habe ich in meiner Karriere wohl für niemanden so viele Songs geschrieben wie für Lee Dorsey.
Aaron Neville hat mir vor zwei Jahren erzählt, dass New Orleans seiner Meinung nach eine ebenso große Musikmetropole wie Detroit hätte werden können, wenn eine lokale Plattenfirma die Sache richtig angepackt hätte, so wie Motown in Detroit.
Das sehe ich ganz genauso. Wir haben sehr hart gearbeitet und viel Energie in unsere Musik gesteckt – wenn es in New Orleans einen Berry Gordy gegeben hätte, jemand mit gutem Geschäftssinn, hätte die Stadt eine ähnliche Entwicklung nehmen können.
Sie haben sich Mitte der Sechzigerjahre mit dem weißen Geschäftsmann Marshall Sehorn zusammengetan ...
... um mich ganz auf die Musik konzentrieren zu können. Das Geschäftliche war noch nie mein Ding, schon bei Minit war das die Angelegenheit der Eigentümer Joe Banashak und Larry McKinley. Marshall Sehorn und ich haben eine Firma aufgemacht, in der wir gleichwertige Partner waren: Er hat sich um die geschäftlichen Angelegenheiten gekümmert, ich um die Musik. Damit begann eine neue, aufregende Zeit in meiner Karriere.
Einer der Knackpunkte dürfte es gewesen sein, dass Sie die Meters ins Studio gebracht haben.
Ja, die Meters waren revolutionär. Nicht nur für uns, sondern generell für die Musikszene der damaligen Zeit. Als ich sie zum ersten Mal auf der Bourbon Street gehört habe, hießen sie noch Art Neville & The Neville Sounds – ich weiß noch genau, wie ich da eines Abends lang ging und diese funky music aus einem Club kam. Drinnen traf ich Art mit den anderen. Ich kannte Art schon ewig und habe ihm also erzählt, dass wir diese neue Plattenfirma namens Sansu gegründet hätten und ob sie nicht Lust hätten, bei uns zu unterschreiben. Das haben sie gemacht und im Zuge dessen ihren Namen zu The Meters geändert. Eine magische Gruppe.
Anfang der Siebzigerjahre nahm Ihre Karriere erneut eine Wendung, als Sie Bläser-Arrangements für The Band schrieben und so erstmalig in der Rockszene aktiv wurden.
Das war ein Meilenstein für mich. Ich kannte The Band damals gar nicht. Aber ich fand schnell heraus, wie wichtig sie waren. Eine einzigartige Gruppe, die ihr eigenes Genre definiert hat. Robbie Robertson hat mich damals angerufen. »Life Is A Carnival» war das erste Stück, das ich für sie arrangiert habe.
Hat diese Zusammenarbeit Ihnen Türen geöffnet?
Absolut. Das hat meine Karriere als Arrangeur sehr befördert. Ich habe dadurch viele Leute kennengelernt, denen ich vorher kein Begriff war. Ich habe Bob Dylan getroffen und er hat sich zu meiner Arbeit geäußert. Für Paul Simon habe ich »Kodachrome« und einige andere Songs arrangiert.
Gibt es unter all den Alben, die in den Siebzigern in Ihrem Sea-Saint-Studio entstanden, eines, das Ihnen besonders wichtig ist?
Aus dieser Zeit finde ich die Alben von Labelle besonders stark, inklusive des Hits »Lady Marmelade«. Diese Ladies waren einfach fantastisch. Patti Labelle schwang sich zum Himmel empor, wenn sie sang. Nona Hendryx ist eine tolle Autorin, ihre Songs hoben sich immer markant von der Durchschnittsware ab. Und auch Sarah Dash mit ihrer hohen Stimme war toll. Eine perfekte Gruppe!
Und so ein Welthit wie »Lady Marmelade« – das ist es doch bestimmt, was jeder Produzent erreichen möchte.
Ja, absolut. Ich fühle mich gesegnet, dass mir das gelungen ist.
Stimmt es eigentlich, dass der Hurrikan Katrina das gesamte Archiv Ihrer Master-Bänder zerstört hat?
Katrina hat nahezu alles zerstört, was ich besaß. Auch viele der alten Aufnahmen. In den Sea-Saint-Studios gab es einen Raum voller Tapes, da stand alles unter Wasser. Die Master-Bänder meiner Solo-Alben hatte mein Sohn allerdings schon vor der dem Sturm in Sicherheit untergebracht, die sind also erhalten geblieben.
Bestimmt sind da auch viele unveröffentlichte Perlen verloren gegangen. Trauern Sie der ganzen Musik nach, die nun unwiederbringlich verschwunden ist?
Als ich nach Katrina erkannte, was alles verloren war, beschloss ich sofort, Gott für alles zu danken, was noch vorhanden war. Das wichtigste für mich: Meine schöpferischen Fähigkeiten waren noch intakt und ich nahm mir vor, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken und weiter Musik zu machen.
Das klingt sehr abgeklärt.
Mein Haus wurde überschwemmt, nichts darin ist erhalten, inzwischen ist es abgerissen worden. Aber ich bin in meiner Seele zu Hause und habe den materiellen Verlust relativ schnell verkraftet. Nach dem Sturm herrschte eine Zeitlang der Ausnahmezustand in New Orleans und man konnte dort nicht leben. Ich bin vorübergehend nach New York gegangen und habe alles neu aufgebaut, nachdem ich nach New Orleans zurückgekehrt bin. Hinzu kommt, dass ich nach Katrina viele neue Ideen hatte. Was wir dort erleben mussten, war einzigartig und hat mich als Künstler auf gewisse Weise auch inspiriert und motiviert. Vor Katrina bin ich vielleicht zweimal im Jahr aufgetreten, danach bin ich richtig auf Tour gegangen und so viel gereist wie nie zu vor. Im Endeffekt war der Sturm ein Segen für mich.
Der Höhepunkt Ihres neuen Albums Songbook ist für mich Ihre Version des Songs »Southern Nights«, inklusive einer mehrminütigen Spoken-Word-Passage enthält, in der Sie sehr prägnant von Ihrer Kindheit erzählen.
Ich sehe Southern Nights als meinen Signature Song an. Es ist für mich auch weniger ein normaler Song, eher ein Erfahrungsbericht, in dem ich mit meinen Hörern Erlebnisse aus meinem Leben teilen kann – wie in einem kleinen Buch. Meine Kindheit war reich – nicht an Geld, aber an Eindrücken und Erfahrungen. Von meiner Familie habe ich viel Liebe und Freude erfahren, und viele Ereignisse sind mir noch sehr präsent.
Sie beschreiben in dem Lied, wie Sie als kleiner Junge zu Verwandtenbesuchen aufs Land mitgenommen wurden und des Nachts auf der Veranda den Erwachsenen lauschten. Gibt es diese Stimmung, die Sie in dem Lied beschreiben, immer noch?
Die Menschen, von denen das Lied handelt, leben natürlich längst nicht mehr. Auch die Gegend dort sieht ganz anders aus als damals. Es gibt jetzt Strom und Knöpfe, auf die man drücken kann. Aber in mir und meinen Song leben diese Erfahrungen weiter. Wenn ich das Lied singe, sehe ich die alten Verwandten vor mir und höre ihre Stimmen. Ich bin nicht mehr der kleine Junge von damals, aber ich bin immer noch da, bewahre diese Erinnerungen und teile sie mit anderen.
Sie sind seit über 50 Jahren aktiv. Wenn Sie die Musikszene von heute mit damals vergleichen, wie lautet ihr Fazit?
In New Orleans ist die Musik so lebendig wie eh und je, allerdings hat sich auch viel verändert. Vor allem wie man die Musik aus seinem Herz zu den Leuten bringt, die sie hören möchten. Generell gibt es heute viel mehr Apparate als früher, von den digitalen Musikspielern bis zu so etwas scheinbar simplem wie elektronischen Stimmgeräten für die Gitarre. Früher haben die Gitarristen ihre Gitarren selbst gestimmt und hatten deshalb manchmal auch einen besonderen Sound. Aber ich finde, man kann nicht sagen, es sei heute besser oder schlechter als früher. Es ist immer noch so, dass man mit guter Musik Erfolg haben kann und dass einem all die neuen Verbreitungskanäle nichts nützen, wenn man nur lauwarmes Zeug anzubieten hat.
Zum Schluss noch eine Frage zu Ihren Schuhen. Ich habe Sie mehrmals live gesehen, dabei ist mir aufgefallen, dass Sie stets Sandalen zu tragen scheinen.
Ja, die trage die jeden Tag, sommers wie winters! Schon seit vielen, vielen Jahre und sicherlich bis zu dem Tag, an dem ich sterben werde.
In ihrer Autobiographie schreibt Patti Labelle, dass Sie in den Siebzigerjahren jeden Tag zur Pediküre gegangen seien!
Ha! Also, täglich zur Pediküre gegangen bin ich nicht. Aber oft genug, damit ich mich mit meinen Füßen und Zehen sehen lassen konnte. Freut mich natürlich, dass das auf sie so gewirkt hat - ich liebe Patti Labelle.