»Es war unvermeidlich, dass wir uns irgendwann entzweien«

Massive-Attack-Mastermind Robert Del Naja im Interview über Pornos, den Wandeln der Popmusik, den Streit mit seinem Partner Grant Marshall und die gar nicht so leicht zu bewantwortende Frage, warum das neue Album der Band nach der Nordsee-Insel Helgoland benannt ist.

Nicht nur auf dem Foto steht etwas zwischen ihnen: Robert Del Naja (3D, links) und Grant Marshall (Daddy G).

Foto: Virgin

Erneut hat es sehr, sehr lange gedauert, bis Massive Attack sich erbarmten, ein neues Album zu veröffentlichten. Morgen erscheint nun Heligoland (Virgin), die fünfte CD der Gruppe, und wer bei dem Titel an Krabben, Möwenschwärme und die Lange Anna denkt, befindet sich keineswegs auf dem – Entschuldigung – falschen Dampfer: Tatsächlich ist das Album nach der beschaulichen Nordseeinsel Helgoland benannt! Vor kurzem hatte ich Gelegenheit, mit Robert Del Naja alias 3D zu sprechen, und was seine Verbindung nach Helgoland ist, habe ich natürlich auch gefragt.

Im Video zu Ihrem neuen Song »Paradise Circus« sind recht explizite Bilder aus Siebzigerjahre-Pornos zu sehen. Wie kam es dazu? Sind Sie Porno-Fan?
Naja, nicht wirklich. Aber ich finde, dass Sexualität, Pornographie und erotische Kunst anregende Themen sein können. Wir hatten ein sehr geringes Budget für das Video, nur 5000 Euro, und wir haben Regisseure gefragt, was sie damit anfangen können. So haben wir diese Idee erhalten. Es sind ja nicht nur die Filmbilder zu sehen, sondern auch ein aktuelles Interview mit der Darstellerin, inzwischen eine alte Frau. Am interessantesten fand ich ihre Aussage, dass sie damals alles getan hätte, nur um gefilmt zu werden. Und das war schon in den Siebzigern! Heute tun die Menschen noch viel extremere Dinge.

Wie hat sich die Popmusik in den letzten Jahren verändert?
Da gab es zwei entscheidende Entwicklungen. Zum einen war das vergangene Jahrzehnt geprägt von dem Aufkommen der Castingshows und Celebrity-Pop-Programme, bei dem die Teilnehmer einen Wettbewerb durchlaufen, um etwas zu werden, das sie eigentlich nicht sind. Diese Transformation gab es schon immer im Pop, aber die Sendungen haben sie beschleunigt und transparenter gemacht. Auf der anderen Seite hat das Internet im vergangenen Jahrzehnt die Kommunikation total auf den Kopf gestellt. Man kann inzwischen die Musikindustrie fast schon ignorieren und seine Sachen über Open-Source-Netzwerke verbreiten. Wer Talent hat, kann mit einem Minimum an Equipment erfolgreich werden, ohne großes Studio, ohne Plattenfirma im Rücken. Dass sich am Ende der Dekade diese totalen Gegensätze herauskristallisiert haben, finde ich sehr spannend.

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Wo stehen Massive Attack in diesem Szenario?
Unsere Wurzeln sind im Underground. Wir haben ein Sound System gemacht, waren DJs, wir kommen aus einer Szene, wo man Musik tauscht und sampelt und stiehlt, um aus den solcherart erlangten Bausteinen neue Sachen zu konstruieren. Deshalb verstehen wir die Open-Source-Kultur des Internets und fühlen uns in dieser Umgebung wohl. Zugleich sind wir eine Mainstream-Band und schon lange Teil der Musikindustrie. Aber die Erfahrungen, die wir dort gemacht haben, bestärken mich nur in der Ansicht, dass wir auch in der vom Internet dominierten Musikwelt der Zukunft unseren Platz finden werden. Wir werden uns bestimmt nicht ans alte Geschäftsmodell der Musikindustrie klammern. Das gilt für uns nicht mehr.

»Als wir 100th Window gemacht haben, gab es einen Punkt, an dem Pro Tools das Kommando übernommen hat. Plötzlich haben die Maschinen die Menschen beherrscht!«

Aber braucht die Popmusik nicht auch den Massenappeal? Was geht verloren, wenn alle nur noch im Internet rumprokeln?
Ich denke, man hat die Wahl, an welcher Schnittstelle man sich mit Musik versorgen, wo man sie kaufen oder tauschen will. Man kann sich weiterhin im Mainstream bewegen, oder sich durch tausende Subgenres tasten; es ist für jeden etwas dabei. Für manche ist das Album eine heilige Form, für andere nur eine Ansammlung von Tracks. Meine Mutter hat früher immer die Alben von den Beatles, den Carpenters, den Moody Blues gespielt. Ich habe mich dann aber für Punk- und Reggae-Singles interessiert, habe Mixtapes gemacht – da ging es immer um verschiedene Versionen von Songs. Ich finde Alben toll, verstehe es aber auch, wenn man sie auseinanderreißt und sich nur ein oder zwei Tracks besorgt. Wir sind doch selbst ein Widerspruch: Wir kommen aus dem DJ-Underground, sind dann mit Blue Lines aber unwillentlich zu einer Albumband geworden.

Warum trägt das neue Massive-Attack-Album den Titel einer deutschen Nordseeinsel, die vor allem für ihre Hummerbuden bekannt ist?
Ich bin auf Helgoland gestoßen, weil dort ein Teil des Films Shadow Of The Vampire gedreht wurde. Ich habe dann viel über die Geschichte der Insel nachgelesen. Ich mag die Bedeutung des Namens: Helgoland heißt »heiliges Land«, das ist natürlich sehr poetisch. Helgoland war militärisches Besatzungsgebiet, aber auch zeitweise eine utopische Kommune – die Insel kommt mir fast wie ein Symbol für unsere moderne Kultur vor, für das Zusammentreffen widersprüchlicher Welten. Leute, die Helgoland gut kennen, werden das vielleicht nicht nachvollziehen können. Ich hoffe sie vergeben mir und lassen mir meine romantischen Vorstellungen von dieser Insel.

Waren Sie denn schon mal dort?
Nein, bisher noch nicht. Wir haben überlegt, dort ein großes, zweitägiges Festival zu veranstalten. Aber das ist wahrscheinlich zu kompliziert, da Helgoland über 40 Kilometer vom Festland entfernt ist.

Ich habe mich gefreut, dass Horace Andy beim neuen Album mitwirkt. Er ist so wichtig für den Sound von Massive Attack!
Auf jeden Fall. Horace verkörpert unsere Geschichte. Er war ein großer Held der Szene, aus der wir kommen; inzwischen hat er die Rolle eines Patriarchen, obwohl er sich manchmal absolut kindisch gebärden kann.

Auch Ihr Partner Daddy G ist wieder dabei, der sich ein paar Jahre lang von der Band distanziert hatte. Wie ist Ihr Verhältnis heute?
Wir sind beide verschiedene Menschen, und es war unvermeidlich, dass wir uns irgendwann entzweien. Grant war nie gerne im Studio, ich habe immer viel Zeit im Studio verbracht. So kam es zum Zwist. Ich fand, er würde zu wenig zu unserer Musik beitragen; er meinte, ich würde ihn zu sehr unter Druck setzen. In einer so langen Partnerschaft geht es immer auf und ab. Wir hatten eine schlechte Periode, aber jetzt verstehen wir uns wieder.

Kurios, aber wahr: Für jedes neue Album haben Massive Attack länger als für das vorige gebraucht. Warum eigentlich?
Warum es jedes mal länger dauert, weiß ich auch nicht. Fünf Alben in zwanzig Jahren – klar, das ist nicht viel. Im Schnitt bringen wir alle vier Jahre ein Album heraus. Wenn wir uns richtig ins Zeug legen würden, brauchten wir vielleicht drei Jahre, aber schneller geht’s nicht.

Hängt das auch mit der modernen Studiotechnologie zusammen? Gibt es einfach zu viele Wahlmöglichkeiten?
Ja, man kann endlos weitermachen. Und wenn man alles aufbewahrt, was man aufnimmt, verwaltet man irgendwann nur noch eine riesige Musikbibliothek. Das kann groteske Ausmaße annehmen. Als wir 100th Window gemacht haben, gab es einen Punkt, an dem Pro Tools das Kommando übernommen hat. Plötzlich haben die Maschinen die Menschen beherrscht! Damals hätten wir uns fast in Details verzettelt. Bei Heligoland haben wir die Maschinen in den Hintergrund gedrängt und die Herrschaft zurückerobert. Der Computer sollte als Aufnahmegerät dienen, nicht als Instrument!

Ich glaube, das Publikum möchten inzwischen wieder mehr Geschichten hören, und nicht nur innovative Beats und Sounds.
Elektronische Musik ist toll, weil sie sich ständig neu erfindet und ihre Vergangenheit abstreift. Das Augenmerk der Produzenten liegt aber eher auf dem Klang, und der Song geht dabei verloren. Die Rockmusik ist dagegen sehr nostalgisch verfasst. Wir haben uns immer darum bemüht, ein gute Balance zwischen beidem zu finden, zwischen Songwriting und klanglicher Innovation.