»Diese Lieder sind unser musikalischer Stammbaum«

Das neue Album von Rosanne Cash beruht auf einem sagenumwobenen Dokument, das ihr Vater Johnny Cash einst verfasste. Im Interview spricht sie über dessen eigenwillige Erziehungsmaßnahmen, die zeitlose Kraft der alten Country- und Folksongs und Gemeinsamkeiten zwischen Johnny Cash und Picasso.

Foto: Blue Note Records

Ein mysteriöses Dokument kommt nun endlich ans Licht, zumindest teilweise: Anfang der Siebziger verfasste Johnny Cash eine Liste mit den hundert seiner Meinung nach wichtigsten Countrysongs und schenkte sie seiner Tochter Rosanne. Viele Jahre lang erzählte Rosanne Cash niemandem von der Liste, doch nun entschloss sie sich, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Diese Woche erscheint ihr tolles neues Album The List (Blue Note), das zwölf jener Songs enthält, die Johnny Cash einst für gut befand.

Rosanne Cash, alle sind wahnsinnig neugierig auf diese Liste!
Seit ich die Liste 2005 zum ersten Mal erwähnt habe, haben mich etliche Leute gebeten, sie sehen zu dürfen. Aber ich habe sie niemandem gezeigt. Ich wollte die Liste nicht veröffentlichen oder ins Internet stellen, denn sie ist sehr kostbar für mich. Irgendwann wird sie in einem Archiv landen, aber momentan gehört sie immer noch mir.

Auf dem Album The List geben sie zwölf der Songs preis, aber jeder fragt sich natürlich, welche Songs Ihr Vater noch für Sie aufgeschrieben hat.
Abwarten. Da wird noch mehr kommen, denn ich will auf jeden Fall eine Fortsetzung des Albums machen. In Interviews habe ich auch einige Songs erwähnt, die auf der Liste, aber nicht auf dem Album sind, zum Beispiel »This Land Is Your Land« und »The Great Speckled Bird«. Mein Vater hatte ein intuitives Verständnis von der Entwicklung der Rootsmusik; von Appalachian Folk und Southern Gospel bis zu Delta Blues, Protestsongs und früher Countrymusik ist alles dabei.

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Erinnern Sie sich an den Moment, an dem er Ihnen die Liste überreichte?
Ja. Es war in seinem Tourbus, ich war 18 Jahre alt. Wir redeten über Musik und er merkte, dass ich viele Lieder nicht kannte, die er erwähnte. So hat er den Nachmittag damit verbracht, die Liste zu verfassen. Er hat sich große Mühe gegeben. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er mit einem Schreibblock in der Hand im Tourbus sitzt und überlegt, welche Lieder wichtig sind.

Countrymusik hat Sie damals, Anfang der Siebziger, nicht besonders interessiert, oder? Ich bin in Kalifornien aufgewachsen und war Rock’n’Roll-Fan. Aber ich wollte bei meinem Vater sein, ihm näher kommen. Ich denke, er gab mir die Liste genau zum richtigen Zeitpunkt. Helen Carter brachte mir damals die Songs der Carter Family bei. Mein Interesse an der Countrymusik begann zu wachsen.

»Ich hoffe, dass sich diese Balance zwischen Tradition und Experiment wieder mehr durchsetzt. Aber ich habe Angst, dass die jungen Künstler nicht weiter zurückblicken als bis zu R.E.M.«

Haben Sie gleich nach dem Erhalt der Liste angefangen, die Songs zu lernen?
Ja, habe ich. Einige kannte ich natürlich schon, zum Beispiel »Long Black Veil«. Im Lauf der Zeit habe ich fast alle Songs gelernt, ich bin regelrecht in sie eingetaucht. Was mir damals noch nicht klar war, was ich aber inzwischen verstanden habe: Diese Songs haben meinen Vater unheimlich stark geprägt. Sie waren ein Teil seiner Seele. Damals dachte ich, Mensch, das ist ja eine tolle Liste. Inzwischen weiß ich: Er hat mir einen Teil von sich gegeben. Diese Lieder sind unser musikalischer Stammbaum.

Hat die Liste Ihr eigenes Songwriting beeinflusst?
Die Songs auf der Liste sind für mich Musterbeispiele für exzellentes Songwriting. Nehmen Sie nur »Bury Me Beneath The Weeping Willow« oder »Sea Of Heartbreak« – das hat die richtige Struktur, da stimmt einfach alles. Gleichzeitig haben viele der Songs inzwischen eine gewisse Patina. Niemand, außer vielleicht Bruce Springsteen, würde heute einen Song wie »Long Black Veil« schreiben, der aus einer Tradition der Appalachian murder ballads kommt. Ich habe also nicht versucht, diese Songs inhaltlich zu kopieren, sondern auf ihren Aufbau und ihre Struktur geachtet: das Reimschema, den Wechsel von der Strophe zum Refrain, die Melodien. Besonders die vielen Moll-Akkorde haben mich geprägt. Die Sehnsucht und der Schmerz, die in den Moll-Akkorden stecken, sind eine wichtige Farbe der amerikanischen Rootsmusik.

Ihr Vater war mit seiner Liste also sehr erfolgreich!
Ja, das war er. Er wollte mir vor allem zwei Dinge vermitteln: Kenntnisse und Respekt. Selbst wenn mein Leben in eine andere Richtung verlaufen würde, sollte ich die Countrymusik kennen und respektieren. Das hat er geschafft.

Hört man die Musik Ihres Vaters, dann merkt man, wie wichtig ihm die Tradition gewesen ist, der er entstammte.
Das stimmt, aber er hat auch experimentiert. Picasso konnte zeichnen, aber er hat verrückte Sachen gemacht. Mein Vater war genauso: Er konnte zeichnen, wie in »Get Rhythm«, aber er wusste auch, wie man abstrakte Kunst macht, wie in »Hurt«.

Johnny Cash hatte für sich eine Balance zwischen traditionellen und modernen Ideen gefunden. In diesem Gleichgewicht liegt meines Erachtens der Schlüssel, um auch heutzutage zeitgemäße Popmusik zu machen.
Das sehe ich genauso. Viele junge Künstler haben das Problem, dass sie die Tradition nicht kennen, in der sie arbeiten. Die wollen Folksongs schreiben und haben noch nie Dylan gehört. Das macht doch keinen Sinn! Man muss doch den Kontext kennen, aus dem man kommt! Ich hoffe, dass sich diese Balance zwischen Tradition und Experiment wieder mehr durchsetzt, dass die Leute in den alten Mustern verwurzelt bleiben. Aber ich habe Angst, dass die jungen Künstler nicht weiter zurückblicken als bis zu R.E.M.

Ihr Album könnte dabei helfen, das traditionelle Repertoire wieder ins Gespräch zu bringen. Ich finde es wirklich exzellent!
Vielen Dank.

Das Album beginnt mir einer herzerweichend schönen Version des Jimmie-Rodgers-Songs »Miss The Mississippi And You«.
John Leventhal, mein Mann, hatte die Idee, den Song als langsamen Texas Swing zu machen, in einem etwas jazzigeren Stil. Ich hatte noch nie so etwas gesungen. Oh mein Gott, ich fiel hinein wie in ein warmes Laken. Es hat solchen Spaß gemacht!

Ich finde es faszinierend, wie lebendig die Songs von Jimmie Rodgers und Hank Williams bis heute sind.
Es ist meine große Hoffnung, dass diese Songs am Leben bleiben und nicht nur Museumsstücke sind, die man aus dem Archiv herauskramt. Ich würde mir wünschen, dass mein Album den Leuten die alten Meister näherbringt. Jimmie Rodgers war so wichtig für meinen Vater! Er musste einfach bei diesem Album dabei sein.

Hatte Ihr Vater nicht sogar eine Sammlung von Jimmie-Rodgers-Memorabilia?
Ja, er war eine Zeitlang regelrecht besessen von ihm. Er ist nach Texas gefahren, um sich die alten Manuskripte von Jimmie Rodgers durchzulesen.

Sie haben tolle Gäste auf dem Album: Elvis Costello, Rufus Wainwright und sogar Bruce Springsteen. Wie haben Sie ihn überredet mitzumachen?
Ich habe gebettelt! Auf meinen Knien! Nein, ich habe ihn einfach gefragt. Er hat das Konzept des Albums sofort verstanden. Es hat ihm die Möglichkeit gegeben, seinen inneren Roy Orbison zum Vorschein zu bringen, und ich glaube, das hat er genossen.

Einer der neueren Songs auf Ihrem Album ist »Silver Wings« von Merle Haggard.
Der ist vielleicht nicht so bekannt wie »Mama Tried« oder ein paar andere Hits von ihm, aber der befindet sich zurecht auf der Liste, weil es wirklich einer seiner schönsten Songs ist. Voller starker Bilder, wie Kino. Erst als das Album fertig war, habe ich gemerkt, dass viele der Songs mit Reisen zu tun haben: Abschied, unterwegs sein, nach Hause fahren.

Solche alltäglichen Themen sind aus der modernen Musik nahezu verschwunden. Warum eigentlich?
Das ist ein interessantes Thema. Mein Vater und ich haben darüber noch kurz vor seinem Tod gesprochen. In der Folkmusik der Appalachen gab es klare Kategorien: Songs über Mütter, über tote Mütter, über Kleinkinder, übers Eisenbahnfahren, über Kriminalfälle und so weiter. All diese ergiebigen Themengebiete wurden in der Musik behandelt. Heute geht's im Pop nur noch um Liebe. Nur ein paar vereinzelte Songwriter – Bruce Springsteen, Steve Earle, Loudon Wainwright – schreiben noch über eine große Anzahl von Themen, ansonsten dreht sich alles um Romantik und Liebe. Schwierig zu sagen, warum sich das so reduziert hat.

Früher haben die Leute sogar über ihr Lieblingsessen geschrieben, oder über die Kleider, die sie tragen.
Denken Sie nur daran, wie wunderbar und gehaltvoll ein simpler Song wie »Waiting For A Train« von Jimmie Rodgers ist.

Ich hoffe, den singen Sie auf The List, Teil zwei.
Ich habe versucht, »Waiting For A Train« zu singen. Schwierig. Für eine Frau macht der Song irgendwie keinen Sinn."