23. März
Nuklearer Winter
Regen in Tokio, zwei Tage hintereinander. Immerhin schneit es nicht. Dieser Winter ist nämlich kein herkömmlicher Winter, er ist viel kälter, die Temperaturen sind so niedrig wie sonst im Februar. Ein bisschen schlechtes Wetter ist nichts, was mich in einer schlimmen Situation wie dieser beunruhigen würde. Es macht mir ja nicht einmal viel aus, ohne Schirm durch den Regen zu laufen. Nie. Aber jetzt bin ich vorsichtig und spanne ihn auf. Ich sage nur Hiroshima und Nagasaki. Jeder in Japan weiß, dass der Niederschlag nach einer nuklearen Katastrophe eine zweite nukleare Katastrophe ist.
Das Wasser in unseren Köpfen
Wasser wird zu Dampf. Der Dampf steigt aus dem Meer, bildet Wolken und regnet herab auf Tokio. Es hat Berichte gegeben, radioaktiv verseuchtes Wasser sei in den Pazifik geflossen. Ich habe Angst, dass die Strahlung das Grundwasser für lange Zeit kontaminiert. Selbst meine Kamerafrau Megumi war schockiert. „Oh mein Gott. Das ist wirklich das erste mal, dass ich mir Sorgen mache.“ Dabei blieb sie die ganze Zeit über in Tokio, ist der Optimismus in Reinkultur. Nun wird selbst sie ein wenig nervös. Denn wir können nichts tun. Sitzen, warten, grübeln. Wir warten darauf, dass die Radioaktivität nicht mehr nur in den Nachrichten läuft, sondern durch unsere Wasserhähne und damit in unseren Alltag hinein.
Gut für die Haut, schlecht für das Gemüt
Dabei ist das Leitungswasser in Tokio gar nicht so übel. Ich habe auch einige Jahre lang in London gelebt. Ich erinnere mich noch genau: Meine Gesichtshaut wurde weich und rein, immer wenn ich meiner Heimatstadt einen Besuch abgestattet und mich mit dem Leitungswasser gewaschen habe. Der einzige Wehrmutstropfen: Es schmeckt nicht sonderlich gut. Megumi und ich haben darüber gescherzt. Wir bewahren immer unseren Sinn für Humor. Aber bei dem nicht ablassenden Strom schlechter Nachrichten, nicht in Panik zu geraten, sich dazu zwingen, immer schön still zu halten, das gerät mittlerweile zu einer Art psychologischer Kriegsführung.
Yudai
Es ist ein Kampf, den Yudai – im Gegensatz zu Megumi – anscheinend schon verloren gegeben hat. Als er das mit dem verseuchten Leitungswasser hörte, sind seine Pläne, Tokio zu verlassen, wieder konkreter geworden. Er möchte nach Aomori ziehen und Landwirt werden. Landwirt! Er denkt gerade nur an sich. Nicht an seinen jetzigen Job. Nicht an seine gemeinsame Wohnung. Nicht einmal an mich.
Was für ein Tag
In jeder Hinsicht war das ein beschissener Tag. Ich habe gemerkt, dass wir uns womöglich wirklich trennen. Yudais Einstellung hat mich tief verletzt. Wir leben zusammen, haben daran gedacht, gemeinsam eine Familie zu gründen – und er denkt nur an sich selbst. Später hat er sich bei mir entschuldigt. Er sei in Panik geraten. Aber seine Entschuldigung kam ein wenig spät. Ich möchte eigentlich nicht weiter darüber nachdenken. Es gibt dringendere Probleme, und mein Herzschmerz nur eine weitere, unnötige Belastung. Was für ein Tag.
Nachtrag
Vielleicht warte ich nicht erst darauf, dass Yudai auszieht. Sondern verlasse die Wohnung vor ihm, auf eigene Faust. Ich war so schockiert und bin immer noch enttäuscht. Ich dachte, er ist Manns genug, das mit mir durchzustehen. Es wird jetzt alles sehr persönlich hier, aber ein Tagebuch ja auch persönlich. Ich denke, mein kleines Drama könnte in dieser oder einer ähnlichen Form überall in Japan stattfinden. Denn im Angesicht einer solchen Katastrophe offenbart sich einem schneller der wahre Kern eines Menschen. Ebenso wie die eigenen Unzulänglichkeiten. Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich über dieses Thema nur schreiben, es aber noch nicht zeichnen kann. Das würde mir das Herz brechen.
Yukos Tagebuch (I) - "Fukushima strahlt in unseren Köpfen"
Yukos Tagebuch (II) - "Ich frage mich was eigentlich bebt - ich oder der Boden unter mir"
Yukos Tagebuch (III) - "In Zeiten wie diesen sollten wir uns selbst Gründe geben, fröhlich zu sein
Yukos Tagebuch (IV) - "Ich möchte in aller Bescheidenheit etwas klarstellen"
Yukos Tagebuch (V) - "Früher hätte ich gedankenlos gesagt: Ist ja wie ausgestorben hier"
Yukos Tagebuch (VI) - "Die Belanglosigkeit ist wohltuend"
Yukos Tagebuch (VII) - "Die Motivation ist mir abhanden gekommen"