Der Befehl erging, sechs Computer zu erwählen, die weder schwanger waren noch verheiratet. Ihre Aufgabe: geheim. Ihre Arbeit: kriegsentscheidend. Alles Weitere erst nach ihrer Auswahl.
Der Armee standen damals mehr als 200 Computer zu Diensten, allesamt blutjung und bildhübsch, überall in den USA angeworben. Unter ihnen gingen sofort Gerüchte über die Geheimsache um, die von einer mysteriösen Maschine sprachen, so neuartig, dass sie noch eines Namens entbehrte. Jede der Computer wollte Hand an sie legen, auch Jean Jennings.
Jennings – eine brünette Schönheit von zwanzig Jahren, die ihr Haar in Dauerwelle trug – war ein typischer Computer jener Tage am Ende des Zweiten Weltkriegs: Sie war schnell, präzise und in der dritten Potenz so sattelfest, dass sie ausnahmslos an nichtlinearen Differentialgleichungen arbeitete. Dass sie eine Frau war, wunderte niemanden. Damals, als die digitale Revolution ihren Anfang nahm, waren fast alle Computer Frauen.
Als Jennings beim Offizier vorsprach, der die Auswahl für die Geheimsache traf, fragte er sie, was sie über Elektrizität wisse.
»R = U : I«, sagte Jennings. Das Ohm’sche Gesetz, dachte sie, dürfte reichen, ihr Wissen unter Beweis zu stellen.
Nein, nein, sagte der Offizier, das meine er nicht – ob sie Angst vor Strom habe? Jennings blickte ihn an. Angst? Vor einem physikalischen Phänomen?
»Ich habe keine Angst«, sagte sie.
Bald darauf erhielt sie den Bescheid. Sie war auserkoren worden – eine von sechs Frauen, die zu einer Legende in der Geschichte der Informatik werden sollten: Sie programmierten den ersten Computer der Welt.
Sie waren ein Haufen, wie ihn damals nur der Krieg zusammenwürfeln konnte. Die Älteste des Zirkels, Betty Snyder, war 28 und Spross einer Familie von Quäkern aus Pennsylvania. Ruth Lichterman und Marlyn Wescoff entstammten jüdischem Elternhaus. Frances Bilas war als eine von fünf Töchtern eines Technikers aufgewachsen, und Kay McNulty war Kind eines aus Irland eingewanderten Steinmetzen, was Sprache und Glaube festsetzte: Sie sprach ihre Gebete auf Gälisch. Was die jungen Frauen verband, war der Wille, der Enge ihrer Herkunft zu entkommen, in der sich ein Lebenslauf streng nach Geschlecht, Abstammung, Religion ausrichtete. Möglich machte das – die Jüngste ihres Zirkels, Jean Jennings, zeigte es – die Mathematik.
Jennings war auf einer Farm in Missouri großgeworden, wo die Endlosigkeit des Mittleren Westens beginnt. Sie war ein Wildfang, der die Spitze des Windrads erklomm und vom Scheunendach sprang. Schnell war ihr diese Welt zu klein. Aber jeder Ausbruch führte sie an Grenzen, die nur für sie zu gelten schienen. Warum durfte sie, bester Werfer einer Softball-Mannschaft aus lauter Jungen, auf einmal nicht weiterspielen? Warum bekamen die Brüder einen Dollar am Tag, wenn sie auf fremden Feldern mit der Haue Mais hackten, sie aber, die genauso schuftete, nur 50 Cent? Lediglich in der Schule gab es keine Schranken. Wie viel sie auch wissen, was immer sie lernen wollte – niemand hielt sie auf.
Ihr Vater, der im Dorf den Lehrer gab, stillte ihren Wissensdurst, so gut es ging. Ihre Mutter, die ohne Abschluss abgegangen war, achtete darauf, dass sie vor allem Algebra und Geometrie aufsog. Die Mathematik, die einen Weg in Schuldienst oder Verwaltung eröffnete, galt als respektable Beschäftigung für Frauen. Jennings war ein Naturtalent. Sie begriff Mathe als Spiel – eine Art endloses Rätsel, das umso fesselnder wurde, je mehr sie davon löste. Sie übersprang eine Klasse. Im Jahr 1941, kurz vor dem Kriegseintritt der USA, begann sie, Mathematik zu studieren. Sie war 16 Jahre alt. Das Leben war fantastisch. Analysis! Und verknallt sein! Arithmetik und der erste Kuss mit einem Seemann!
1944 schloss sie als Bachelor ab. Jedermann erwartete, sie werde Lehrerin. Jennings jedoch bewarb sich auf eine Anzeige der Armee: Mathematikerinnen gesucht! Zu jener Zeit ersetzten Frauen die eingezogenen Männer in Fabriken und Büros, auch in außerordentlicher Arbeit: An der Universität in Philadelphia wurden im Auftrag der Armee ballistische Tabellen berechnet – Fibeln für die Artillerie, die für Geschütze die Flugbahn der verschiedenen Geschosse verzeichneten. Die Rechnerei dafür erfolgte von Hand, die einzige Hilfe eine Tabelliermaschine, die zu multiplizieren und zu dividieren vermochte. Die Angestellten, die rechneten, hießen nach ihrer Tätigkeit – Computer, die Rechner.
Als Jennings Anfang 1945 in Philadelphia als Computer antrat, sah sie alle Arbeitsplätze voller Frauen, an der Spitze eine Chefin, die sie mit Zigarette im Mund begrüßte. Wo Jennings herkam, hatte eine anständige Frau hinters Gewächshaus schleichen müssen, um eine zu rauchen. Beflügelt stürzte sie sich in die Arbeit. Eine Flugbahn zu berechnen bedeutete, Gleichungen zu lösen – ellenlange, mit Wurzeln und Winkelfunktionen gespickte Gleichungen, die den Weg einer Granate auf die Zehntelsekunde genau kalkulierten, wie in Zeitlupe. Eine einzelne Bahn zu berechnen konnte Tage dauern; eine anspruchsvolle, aber eintönige Aufgabe. Jennings war nach wenigen Wochen langweilig.
Die Atmosphäre machte es wett. So viele Computer, die eigenes Geld verdienten, fern des Elternhauses lebten, frei von Zwängen waren – gelegentlich feierten die jungen Frauen ihr Leben in einem selbst gedichteten Lied, das übersetzt in der Zeile gipfelte:
»Wir haben schon ’nen Komplex/ von Wein, Sex und f(x)«
Als die Gerüchte aufkamen, es gebe da eine Geheimsache, hofften viele Computer, dafür erwählt zu werden. Ihnen war nicht entgangen, dass im ersten Stock des Gebäudes, in dem sie rechneten, ein Gerät gebaut wurde, das die gesamte Etage einnahm. Aber nur jene sechs Frauen um Jennings bekamen den Apparat zu sehen – ein atemberaubender Anblick: Hinter einer Front schimmernder Schalttafeln erstreckte sich ein Spalier übermannshoher Segmente aus schwarzem Metall, aus denen ein Wirrwarr von Kabeln wucherte, das Tausende und Abertausende Elektronenröhren verschaltete. In Gänze war das Gerät dreißig Meter lang, wog fast dreißig Tonnen und schluckte so viel Strom, dass die Mär umging, sein Anschalten ließe überall in der Stadt die Lampen flackern.
Etliche Kriegsparteien hatten im Geheimen an der Idee eines Maschinenrechners gearbeitet. In Berlin baute Konrad Zuse an seinem Z3, in Großbritannien rechnete Colossus gegen deutsche Geheimcodes an, in den USA kalkulierte Mark I die Kraft der Atombombe – aber keine dieser Maschinen vereinte alle Merkmale, die einen Computer später ausmachen sollten. Das tat nur das Trumm aus dem ersten Stock in Philadelphia. Es rechnete rein elektronisch. Es arbeitete digital. Und es war als Universalrechner ausgelegt – also nicht auf einen einzelnen Zweck ausgerichtet, sondern potenziell in der Lage, jede logische Aufgabe zu lösen.
Um dieses Potenzial freizusetzen, bedurfte die Maschine allerdings Personals, das ihre Kabel und Komponenten für jede Aufgabe neu kombinierte – eine anspruchsvolle, aber eintönige Aufgabe. Für die Männer, welche die Maschine erdacht und erbaut hatten, klang das nach Frauenjob. Der Befehl erging, sechs Computer zu erwählen. Als Jennings und ihre Kolleginnen antraten, beauftragte man sie, sich mit der Maschine vertraut zu machen. Es gab keine Handbücher. Es gab keine Bedienungsanleitung. Das Einzige, was man ihnen in die Hand drückte, war ein Packen Blaupausen und Schaltpläne.
Die sechs Frauen hatte ein Spruch der Ältesten, Betty Snyder, auf ihre Arbeit unter Männern eingestimmt: »Look like a girl, act like a lady, work like a dog« – sieh aus wie ein Mädchen, verhalte dich wie eine Dame, arbeite wie ein Tier. So machten sie sich ans Werk. Sie krochen in den Innereien der Maschine umher. Sie durchdachten ihre Schaltkreise und die Logik dahinter. Irgendwann waren sie so sicher in diesem Irrgarten von Maschine, dass sie unter allen 17 468 Elektronenröhren eine fehlerhafte schneller fanden als die Erfinder. Jetzt konnten sie den Kabelsalat mit den zu lösenden Gleichungen in ihrem Kopf in Einklang bringen – sie begannen, der Maschine Aufgaben einzuschreiben.
Die Welt der Informatik war so jung, dass es noch kein rechtes Wort für dieses Tun gab. Weil es so viel Verkabeln mit sich brachte, nannten die sechs Frauen es Stöpseln. Die Männer um sie herum waren aus dem Häuschen. Abgesehen von etwas Anerkennung änderte sich aber nichts. Sie blieben Sub-6er, das Kürzel für subprofessionelle weibliche Angestellte, denen kein Mannslohn zu zahlen war.
Als die Maschine nach Monaten der Arbeit zum Einsatz bereit stand, war der Krieg vorbei. Anfang 1946 entschloss sich die Armee, die Existenz der Maschine offenzulegen, in einer Vorführung vor Funk und Film. Das Datum: 15. Februar 1946. Die Aufgabe: die Flugbahn einer Granate schneller zu berechnen, als das Geschoss unterwegs war. Die Frauen bekamen Order, die Maschine dafür zu stöpseln. Sie arbeiteten zwei Wochen lang, Tag und Nacht.
Es wurde ein sensationeller Erfolg. Die Männer der Maschine hatten an alles gedacht – es gab ein Pressedinner, eine Präsentation, und für die Fotografen hatten sie halbierte Pingpong-Bälle über die Leuchtdioden des Rechners gestülpt, was den Eindruck eines Wesens erweckte. Die Wochenschauen brachten Bilder des blinkenden Wunders und seiner Erfinder, in Zeitungen priesen Gedichte die Männer um das Maschinengehirn, dessen Namen nun nicht mehr geheim war: ENIAC – »Electronic Numerical Integrator and Computer«. Nur von Frauen war nie die Rede.
Die sechs Programmiererinnen des ENIAC waren weder zu Präsentation noch Pressedinner eingeladen worden. Jennings war außer sich, aber es war schon geschehen – in dem Augenblick, in dem der erste Computer der Welt in die Geschichte einging, blieben seine Programmiererinnen außen vor. Ihre Rolle war auf einen Schlag wie ausgelöscht: Als die Armee mit Fotos des ENIAC um neues Personal warb, schnitt man die Bilder so zurecht, dass nur Männer zu sehen waren. Die sechs Frauen begleiteten die Maschine noch, bis sie auf ein Testgelände für Geschütze verlegt wurde. Dann ging jede eigene Wege. Als sie heirateten und Kinder bekamen, hörten sie das Arbeiten auf. Die Namen Snyder, Lichterman, Wescoff, Bilas, McNulty, Jennings verloren sich im Vergessen.
Erst Jahrzehnte später, in den 1990er-Jahren, entdeckten Historikerinnen die Pionierinnen wieder. Jean Jennings erhielt einen Ehrendoktor verliehen. Sie schärfte bis zu ihrem Tod 2011 jungen Frauen ein, eines nie zu vergessen, wenn sie Karriere machen wollten: Sieh aus wie ein Mädchen, verhalte dich wie eine Dame, arbeite wie ein Tier – »and think like a man«, fügte sie hinzu, denke wie ein Mann.
Fotos: 2002 Jean Jennings Bartik Computing Museum, Northwest Missouri State University, Darren Whitley/Northwest Missouri State University.
Foto: Darren Whitley