Im Oktober 2003 war mir langweilig. In meinem Kinderzimmer in New York baute ich eine japanische Internetseite nach, um mit anderen Interessierten online Bilder aus Manga-Comics auszutauschen. Ich war 15, die Seite nannte ich 4chan und mir gab ich das Pseudonym »moot«, weil das nett klang. Heute zieht meine Plattform jeden Monat fünf Millionen Menschen an, und moot wurde vom TIME Magazine als eine der einflussreichsten Personen 2009 bezeichnet. Doch ich will niemanden beeinflussen, ich mache keine Vorgaben, sondern stelle eine ganz simpel gestaltete Internetseite zur Verfügung, die von den Leuten gefüllt wird.
4chan funktioniert wie die Antithese zu Facebook: Nutzer können ihre Threads posten, also Texte, Bilder oder Videos einstellen und kommentieren, ohne sich zu registrieren. Alles ist für alle ersichtlich, aber jeder kann anonym sein. Auch ich bin den Usern gegenüber anonym bzw. moot. Meinen echten Namen kannte im Netz niemand, bis mich Journalisten vom Wall Street Journal im letzten Jahr ausfindig machten. Erst da erfuhren auch meine Eltern und Freunde von meinem »second life«: Zuvor hatte ich allen, für die ich »Chris« war, mein Internet-Ich und die von mir geschaffene Plattform verheimlicht.
Ich wollte nicht berühmt werden mit 4chan, und genauso wenig wollen das die Nutzer. Auf Facebook geht es um User-Profile, auf 4chan um Inhalte. Und die sind oft eklig, abschreckend oder einfach total banal, aber auch lustig, kreativ und tiefsinnig. Ich persönlich finde politische Hack-Attacken interessanter als die Nahaufnahmen der eigenen Schamhaare, die auf der Seite andauernd auftauchen. Aber vielen Leute macht es eben Spaß, hitzige Diskussionen über die besten Analsex-Stellungen zu führen. Manche zeigen lieber Bilder veganer Restaurants in Sydney und Fotos von M16-Gewehren oder äußern sich bisweilen rassistisch und sexistisch. Das entspricht nicht meinem Geschmack, doch ich halte nichts von Zensur – außer wenn es um Kinderpornografie geht oder die Inhalte gesetzeswidrig werden.
Das können mein einziger Mitarbeiter und ich aber sowieso kaum kontrollieren: »Anonymous« – so lautet das Pseudonym aller Nutzer, die sich namenlos einloggen – wohnt in Australien und Russland zugleich, schläft also nie und kann auf 43 verschiedenen 4chan-Rubriken parallel posten. 400 000 neue Beiträge erscheinen durchschnittlich pro Tag, die überleben meist nicht länger als eine Stunde. Je mehr neue Threads von den Nutzern hinzugefügt werden, desto weiter nach unten wandern die älteren, fallen irgendwann einfach raus. Wir archivieren nichts. Ideen bleiben nur dann länger präsent, wenn die Nutzer sie immer wieder aufgreifen. So entstand auch schon politischer Widerstand auf meiner Seite: Anfang 2008 bildete die anonyme 4chan-Masse eine Anti-Scientology-Bewegung als Reaktion auf das Werbe-Video von Tom Cruise auf Youtube. Weltweit hackte sie die Server von Scientology-Mitgliedern und protestierte gegen deren Steuervorteile in den USA. Außerdem knackte »anonymous« Sarah Palins privaten E-Mail-Account, weil sie den für politische Zwecke nutzte. So kann das Internet dazu dienen, die Mächtigen zu kontrollieren! Über so etwas hatte ich nie nachgedacht, als ich die Seite mit 15 ins Leben rief. Ich kannte keine Cyber-Utopien zur Schwarm-Intelligenz, wie sie vielleicht der Wikipedia-Gründer im Kopf hatte. Ich schuf einfach ein Produkt und sehe seitdem mit Spannung dessen Entwicklung zu. Und ja: Mir gefällt dieses Spiel, in dem Glaubwürdigkeit und Relevanz manchmal ad absurdum geführt werden. Beim »Rickrolling« zum Beispiel: Immer wieder postete im Mai 2007 »anonymous« ein und denselben Link als total wichtig. Alle, die ihn anklickten, landeten jedoch einfach nur bei dem Youtube-Video von Rick Astleys Never Gonna Give You Up. Elf Monate später waren mindestens 18 Millionen Amerikaner »gerickrolled« worden. Das Lied wurde somit in den USA erneut zum Superhit, vielleicht weil nur ein einziger 4chan-Nutzer oder ein paar Millionen – man weiß ja nie, wie viele hinter »anonymous« stecken – sich einen Scherz erlaubt hatten.
Welche Ideen auf meiner Plattform die breite Aufmerksamkeit finden und sich dann rasant im ganzen Netz verbreiten, das scheint mir so zufällig wie mein Leben selbst. Das macht allerdings die Finanzierung zum Problem: Firmen wollen keine Anzeigen auf eine Seite stellen, deren Inhalt so unberechenbar ist. Eine Homepage kostet jedoch Geld, und 4chan zu moderieren, also auf gesetzeswidrige Inhalte hin zu kontrollieren, zudem viel Zeit. Ich bin 21 Jahre alt, will nun ein Studium beginnen und habe hohe Schulden. Aber an Murdoch würde ich nie verkaufen. Eher wohne ich noch ein bisschen länger bei meiner Mama.
Christopher Poole alias moot, 21, lebt in New York.
Protokoll: Carolin Wiedemann; Illustration: Christoph Niemann