Anrufe im Nahen Osten und in Nordafrika – Tunesien

Sechs Länder, sechs Mal Chaos und Gewalt. Wie geht es jetzt den Menschen dort? Wir haben in jedem Land hundert Mal angerufen - irgendwo, irgendwelche Nummern, ganz zufällig: eine Sammlung unverfälschter Stimmen.

    Die Tunesier waren die Ersten, die aufgestanden sind. Schon im Dezember gingen Tausende auf die Straßen, um für ein besseres Leben zu demonstrieren. Aus den Unruhen wuchs eine Revolution, die vier Wochen später den Alleinherrscher Ben Ali zu Fall brachte. Nun soll eine Übergangsregierung das Land zu freien Wahlen führen. Keine leichte Aufgabe, in den vergangenen Tagen hat es neue Proteste und Gewalt gegeben. Der Interimspräsident Mohamed Ghannouchi musste sein Amt aufgegeben, das tunesische Volk hat dem einstigen Weggefährten Ben Alis kein Vertrauen geschenkt. Die Menschen, die wir erreichen, wirken trotzdem gelöst. Es scheint so, als würden sie uns gern Auskunft geben.

    In Tunis nimmt ein Mann ab.
    Haben Sie Angst?
    Nein, das habe ich hinter mir.
    Wie meinen Sie das?
    Ich habe acht Tage lang sieben Meter tief unter der Erde im Dunkeln festgesessen. Ohne Telefon, ohne Toilette - und das nur, weil ich für den Präsidenten gearbeitet habe. Das vergisst man nicht so schnell.
    Wie - Sie haben für den Präsidenten gearbeitet? Was genau?
    Das sage ich Ihnen nicht.
    Wäre es Ihnen lieber, der Präsident Ben Ali wäre noch im Amt?
    Nein, nein, es ist in Ordnung, wie es gekommen ist. Aber jetzt braucht alles seine Zeit.

    Eine zufällige Handynummer. Ein Mann antwortet.

    Wie geht es Ihnen?
    Danke, gut, jetzt ist es viel besser. Mitte Januar, da war es sehr schlimm, es wurde viel geschossen, wir hatten Angst. Aber seit das Militär da ist, fühlen wir uns viel sicherer.
    Ist Ihnen denn persönlich etwas zugestoßen?

    Ja, mein Bruder ist Polizist, wir haben zwei Wochen nichts von ihm gehört.
    Aber jetzt hat sich die Lage beruhigt?
    Gott sei Dank, ja. Die Geschäfte haben endlich wieder geöffnet, wir können wieder Brot kaufen gehen.

    Als Nächstes geraten wir an einen Mann, der erstaunlich viel lacht.

    Wir würden gerne wissen, wie es gerade bei Ihnen im Land zugeht.
    Haha, verstehe. Kann ich Ihnen gern sagen. Bei mir ist überhaupt nichts los, haha.
    Haben Sie Angst?
    Nein, wieso? Was die Sicherheit angeht, ist jetzt alles viel besser. Das Militär erfüllt seine Aufgabe so, wie es sich gehört. Die Revolution war ein erster großer Schritt, jetzt müssen wir schauen, dass wir am Ball bleiben, haha.
    Ist Ihnen selbst etwas passiert?
    Nein, mir nicht.
    Welches Ereignis der letzten Zeit ist Ihnen besonders in Erinnerung?
    Ich werde nie vergessen, wie Ben Ali abgehauen ist und den Schwanz eingezogen hat, haha! Und seine Frau Leila erst, haha!
    Haben Sie eine Botschaft für die Menschen in der Welt?
    Weit weg von der Gier sollt ihr sein, wenn ihr uns helfen wollt! Realistisch sein, nicht nur Vorträge halten. Besucht uns weiterhin als Touristen, bleibt uns treu. Wir müssen jetzt die Wirtschaft aufbauen, wir brauchen Arbeit. Ihr könnt Firmen, Fabriken und Häuser bei uns aufbauen, damit wir arbeiten können. Oder ihr gebt uns langfristige Kredite für die Wirtschaft. Die Tunesier sind intelligente Menschen.

    Eine Frau nimmt ab, sie spricht  sehr laut.
    Wo sind Sie genau?
    In Tunis. Das Licht ist aus, wir haben Angst. Es geht uns hier so schlimm, alles versinkt im Chaos, ich kann nicht mehr. Gerade wurden drei junge Männer erschossen.
    Wie, vor Ihrem Haus?
    Ja! Ich bin auf dem Balkon (sie schreit jetzt), hier ist gerade ein Hubschrauber über uns. Die RCD (die einstige Regierungspartei Ben Alis, die nun auch in der Übergangsregierung sitzt) versaut uns alles. Das ist unsere Revolution, was wollen wir mit so einem alten Sack wie Ghannouchi? Warum lassen sie nicht die Jüngeren übernehmen?
    Möchten Sie den Menschen in Deutschland etwas sagen?
    Glaubt der Presse kein Wort, sie lügen! Wo ist die Ehrlichkeit? Die Journalisten sind ständig da und schauen zu, aber dann berichten sie nicht darüber!
    Noch einmal: Wo sind Sie genau?
    Sie können … (Die Verbindung bricht ab)

    Meistgelesen diese Woche:

    Eine junge Männerstimme meldet sich.
    Kenne ich Sie?
    Nein. Aber dürfte ich mit Ihnen reden?
    Wer bist Du?
    Ich rufe aus München an und möchte Sie fragen, wie es euch jetzt in Tunesien geht.
    Probleme, Probleme. Sie haben so vieles verbrannt, die Arbeit ist dadurch noch schwieriger, als sie es ohnehin schon gewesen ist.
    Das tut mir leid, haben Sie Ihren Job verloren?
    Nein, ich bin Schüler.
    Wie alt bist Du?
    Ich bin heute 16 geworden, haha.
    Alles Gute zum Geburtstag!
    Danke.
    Hast Du noch Angst?
    Ja, natürlich. Das was wir mal im Fernsehen gesehen haben, haben wir jetzt selbst erlebt, live. Und bis heute weiß ich nicht, was noch auf uns zukommen kann. Der RCD lässt uns keine Ruhe. Es ist nicht leicht.
    Ist dir etwas zugestoßen?
    Nein, aber das Militär ist überall. Jeder schaut auf das Militär, auch die Polizei.
    Was wünscht Du dir für die Zukunft?
    Dass die restlichen Verbrecher festgenommen werden.

    Wo leben Sie?
    In Bjewa, in der Nähe von Mannuba (Eine Stadt im Norden, westlich von Tunis).
    Haben Sie Angst?
    Nein, uns geht es sehr gut. Nur in der Stadtmitte ist es noch sehr unruhig. Aber man fühlt sich noch nicht ganz sicher.
    Hat sich das Land gebessert?
    Nein, aber es ist nur noch eine Frage der Zeit. Was uns jetzt noch fehlt, ist die Organisation der Politik.
    Was ist Ihre Botschaft an die Welt?
    Tunesien ist super. Wir brauchen Zeit. Wir sind frei, frei.

    Eine Frau, Englischlehrerin von Beruf, nimmt ab.
    Wo sind Sie genau?
    In Grombelia (gehört zu Nabeu im Nord-Osten).
    Ist dort viel los?
    Nein, im Gegenteil, es ist sehr ruhig.
    Hat sich die Lage für Sie geändert?
    Sicher, es ist ein großer Unterschied, verglichen mit der Situation vor dem 14. Januar 2011. Ich bin sehr stolz, eine Tunesierin zu sein.
    Was ist Ihnen in Erinnerung geblieben?
    Bouazizi werden wir nie vergessen, mit ihm und durch seine Aktion ist das Fass übergelaufen. Er ist unser Freiheitskämpfer.
    Haben Sie eine Botschaft für die Menschen?

    Wenn das Volk sich eines Tages entschieden hat für das Leben, gibt es nichts, was unmöglich ist! (Eine Anspielung auf eine Zeile der tunesischen Nationalhymne.) Jetzt hat man die Möglichkeit, Tunesien ernsthaft kennen zu lernen. Jetzt ist es Tunesien. Tunis ist Tunis. Tunis ist vorbereitet auf alles. Barack Obama sagt: „Yes, we can” und wir sagen “Ja, wir tun es”!

    Wo bin ich gelandet?
    In Grombelia.
    Wo sind Sie?
    Zu Hause.
    Ist dort etwas los?
    Nein, nein. Aber in Tunis demonstrieren noch. Sie wollen das Beste.
    Was meinen Sie damit?
    Sie wollen, dass Ghannouchi geht.
    Wie geht es Ihnen jetzt?
    Wunderbar, frei zu sein ist unbeschreiblich.
    Was war der schlimmste Moment für Sie?
    Dass Bouazizi sich umgebracht hat.
    Was wünschen Sie sich von Deutschland?
    Ihr könnt gerne helfen, aber es soll sich keiner einmischen.
    Was machen Sie jetzt?
    Ich bleib zu Hause.

    Außer in Tunesien haben wir noch in folgenden Ländern angerufen:
    Libyen - "Niemand weiß, was morgen passieren wird"
    Ägypten - "Jetzt ändert sich alles"
    Marokko - "Ich bekomme viele Morddrohungen"
    Iran - "Die Grüne Bewegung lebt. Sie lebt!
    Jemen - "Das ist alles aus dem Westen gesteuert"

    Telefonate und Produktion: Ilhem Ajili, Christoph Cadenbach, Amr Elhadad, Max Fellmann, Ellhem Hysene, Solmaz Khorsand, Wolfgang Luef, Burhan Schawich, Anna Schmidhauser, Laura Selz, Hakan Tanriverdi, Zeidan Ali Zeidan

    Foto: dpa