Der Mann aus Reihe drei

Im Herbst tritt Matthias Lilienthal als neuer Intendant der Münchner Kammerspiele an. Viele glauben, er werde das ehrwürdige Theater gehörig aufwirbeln. Dabei tut er das längst.

Matthias Lilienthal ist ein konfliktfreudiger Mensch. Aber auch ein sehr höflicher. Ist er vom Verhalten anderer Menschen befremdet, sagt er zum Beispiel oft: »In deren Logik kann ich das verstehen.« Das gelbe T-Shirt wird man noch ein paar Mal sehen im Lauf der nächsten Monate. Es ist eine Ansage. So wie die Baggy Jeans, die graue Kapuzenjacke, die Frisur.

Fünf Minuten vor der verabredeten Zeit: Matthias Lilienthal sitzt schon auf einem Barhocker in einer kleinen Pizzeria in München. Ein großer, schwerer Mann im schlabberigen sonnengelben T-Shirt, das nicht den Verdacht erweckt, je in Mode zu kommen. Und weil er weiß, dass das Thema auf den Tisch muss, packt er es gleich selbst darauf. »Ich hab ja einen Hang dazu, den Kleidungsvorschriften nicht zu genügen, die angesagt sind«, sagt er. »In München kollidiert das zum ersten Mal mit dem Job.«

Ein warmer Abend im vergangenen September. Lilienthal ist seit zwei Monaten in München, um seine Intendanz an den Kammerspielen vorzubereiten, die im Herbst 2015 beginnt. Mit einem »richtigen Feuerwerk«, so sagt er es selbst. Der Leiter des Münchner Kulturreferats, Hans-Georg Küppers, hat ihn zum Nachfolger von Johan Simons auserkoren, weil er ihn für den »zukunftsweisendsten und wandlungsfähigsten Theatermacher unserer Zeit« hält. Okwui Enwezor nennt Lilienthal einen »Glücksfall für München«. Enwezor ist, als Direktor des Hauses der Kunst, selbst ein Glücksfall für München.

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Lob hört Matthias Lilienthal nicht so gern, sagt er selbst, es macht ihm sogar Angst. »Mir geht es besser, wenn ich unterschätzt werde.« Dass er schon oft für den Hausmeister gehalten wurde und nicht für den Intendanten, findet er gut. Aber auch komisch. Sein Lachen klingt leicht wie das eines Kindes, es ist ungefähr eine Oktave höher als die Stimme, mit der er spricht.

Matthias Lilienthal, Jahrgang 1959, war zunächst Dramaturg am Theater Basel bei Frank Baumbauer, dann Chefdramaturg unter Frank Castorf an der Volksbühne, an deren Verwandlung in »ein Wundertheater«, wie viele sagen, er stark beteiligt war: Er öffnete die Bühne für Diskussionen, Popmusik, Lesungen, Themenabende, Performance, was in den Neunzigerjahren für ein Stadttheater unüblich war. Auch die Idee, aus dem Trashfilmemacher Christoph Schlingensief einen Theaterregisseur zu machen, kam von ihm.

1999 verließ Lilienthal im Streit mit Castorf die Volksbühne (»Die Geschichte erzähle ich gern, aber später«, sagt er), arbeitete 2002 als Leiter des Festivals »Theater der Welt« im Rheinland und wurde 2003 erster Intendant des Hebbel am Ufer in Berlin, genannt HAU, das 2004 und 2012 unter seiner Leitung zum »Theater des Jahres« im deutschsprachigen Raum wurde. Am HAU verwirklichte Lilienthal Projekte mit Architekten, Künstlern, auch mit Migranten. Er arbeitete mit freien Gruppen wie Rimini Protokoll, She She Pop und Gob Squad. Mit seinem unkonventionellen Programm holte er wieder junge Leute ins Theater und machte das HAU weltweit zur Avantgarde-Adresse.

Trotz dieser Verdienste titelten die Feuilletons in München mit dem »Edelpenner aus Neukölln« und schrieben vom »Berliner Straßenköter«. Das Münchner Theaterpublikum sorgt sich, die Kammerspiele könnten vom ehrwürdigen Ensemble-Theater zum Jugendzentrum mit Graffiti werden.

Matthias Lilienthal weiß, dass die ersten zwei Jahre in München hart werden. Und es ist ihm ganz recht. Einer seiner Lieblingssätze über sich selbst lautet: Mir ist lieber, ich komme aus der dritten Reihe und nicht aus der ersten.

»Den Edelpenner verkrafte ich«, sagt Lilienthal jetzt, »das ist ja eine Selbstbeschreibung von mir. Aber beim Straßenköter musste ich schon schlucken.« Er krempelt die kurzen Ärmel des T-Shirts hoch, verschränkt die Arme vor der Brust und steckt die Hände unter seine Achseln. Auch diese Geste wird man öfter sehen. Meist behagt ihm dann eine Situation nicht so sehr.

Nachdem er zwei Apfelschorlen getrunken hat, fragt er, was man am besten isst, und bestellt, was ihm empfohlen wird: Pizza mit Kapern und Sardellen. Am HAU, erzählt er, »hatte ich als Edelpenner«, er grinst, »den Vorteil, zu allen einen Zugang zu haben: zur linken Szene, den Ostberliner Outcasts und Herrn Wowereit.« In München stehen ihm nun die Antrittsbesuche bei den Stadträten bevor. Er hat viel vor mit den Kammerspielen und weiß, dass er die Unterstützung der Politiker braucht. Seine Strategie: Transparenz. »Ich werde sie gut informieren. Es macht mir ja auch Spaß, Politiker zu verführen. Entweder sie lieben mich – oder ich nerve sie.«

Seine Penetranz hält er für eine Stärke. »Ivan Nagel hat mal gesagt, der große Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg sei Penetranz.« Er lächelt und hebt die Schultern, als wolle er sagen: Besser als der ungarische Thea-terintendant kann man das nicht formulieren.

Ein grauer Oktobertag in München. Die Aktivisten von Goldgrund haben zum Protest aufgerufen, gegen den Abriss eines leer stehenden Hauses im Glockenbachviertel, für eine vernünftigere Mietpreispolitik in München und für ein Flüchtlingshaus. Lokale Prominente wie die Kabarettisten Luise Kinseher und Frank-Markus Barwasser, der Regisseur Marcus Rosenmüller, die Autoren Axel Hacke und Friedrich Ani warten neben der Bühne, die sie nacheinander betreten, um kurze Biografien junger oder jugendlicher Flüchtlinge vorzulesen.

Matthias Lilienthal wartet unter den Zuschauern. Als er dran ist, geht er langsam nach vorn, gesenkter Kopf, hochgezogene Schultern, die graue Kapuze im Nacken, bleibt vor der Bühne auf der Straße stehen und liest das Schicksal eines jungen Syrers vor, der der einzige Überlebende seiner Familie ist und sich nichts mehr wünscht, als in Deutschland arbeiten zu dürfen. Als Lilienthal fertig ist, geht er nicht hinüber zu dem Häufchen der Prominenten, sondern mischt sich wieder in die Menge.

Zwei Tage später verkündet Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter, dass das Haus in der Pestalozzistraße abgerissen wird. Gleichzeitig bietet er an, über die Häuser 2 bis 6 in der Müllerstraße nachzudenken, für die Goldgrund schon lange kämpft. Das erzählt Lilienthal am Telefon. Er redet schnell, wenn er aufgeregt ist. Es soll ein Flüchtlingshaus entstehen. Wenn das was wird, sagt er, wird er was mit den Flüchtlingen im Theater machen.

Theater ist für ihn schon seit der Volksbühne immer zumindest auch postdramatisch. Ein Reflexionsort. Eine Begegnungsstätte. »Mir ist für den Anfang total wichtig, dass etwas den elitären Raum von Theater auskontert.« Er wünscht sich, dass das Theater »in die Stadt reingeht«, die Themen der Stadt aufnimmt, den Diskurs auf den Straßen anregt. Ein Münchner Thema für ihn: das Wohnen. »In München gibt es so eine Leichtigkeit. Wenn hier jemand Probleme hat, dann sind es Wohnprobleme. Mich interessiert, was hinter dieser Leichtigkeit ist. Und mich interessiert es, wenn eine Gesellschaft sich mehr über einen dreißig Jahre alten Mietvertrag definiert als über Erwerbsarbeit.«

Wie politisch muss Theater für ihn sein, wie aufklärerisch? »Vielleicht hab ick ja ein verschissenes Aufklärungsbedürfnis.« Er schlägt einen besonders lockeren berlinerischen Tonfall an. »Theoretisch glaube ich daran aber nicht.« Was er damit sagen möchte? Er möchte sagen, dass er sich widerspricht, dass er Theater natürlich als politisch empfindet – sich damit aber nicht so wichtig nehmen möchte wie zum Beispiel Claus Peymann, der bei der Übernahme des Berliner Ensembles ankündigte, »ein Reißzahn im Arsch der Mächtigen« zu sein. Diese Art von Sendungsbewusstsein ist Lilienthal fremd. Aber natürlich kämpft er für das Flüchtlingshaus, weil er glaubt, dass es etwas ändern kann.

Das Münchner Wohnthema wird auch langsam zu einem in Matthias Lilienthals Leben. Ständig besichtigt er Wohnungen, die er als so viel zu teuer empfindet, dass er sie nicht nimmt. Am 11. November 2014 um kurz vor 19 Uhr steigt Lilienthal in den 5. Stock eines Nachkriegshauses in der Schyrenstraße gleich an der Isar, Fahrradkuriertasche über der Schulter, die graue Kapuze im Nacken. Er keucht, hält aber das Tempo, da packt ihn der sportliche Ehrgeiz. In der Wohnung angekommen, öffnet er als Erstes die Terrassentür, läuft raus, kommt wieder rein, schaltet den Kompass auf dem Handy ein, fragt: »Südbalkon?« Und: »Hat die Wohnung irgendwelche Nachteile?« Das Bad interessiert ihn kaum, aber die Küche. Und die hohen Decken. Es würde ihn schon Überwindung kosten, sagt er beim Hinuntergehen, »in so ein Fünfzigerjahremief-Haus zu ziehen«. Lilienthal wuchs in der Sonnenallee auf, im Westberliner Stadtteil Neukölln. Sein Vater war Ingenieur und Leiter eines Gaswerks, die Familie – Matthias Lilienthal hat zwei Geschwister – lebte in einer Werkswohnung. »Die Leute gingen nach der Arbeit in die Kneipe und besoffen sich. Das war das Gegenteil von Kultur«, sagt er.

Seine Eltern, die in dieser geschlossenen proletarischen Welt etwas Besseres waren, schickten den Sohn auf das Evangelische Gymnasium zum Grauen Kloster in Wilmersdorf. An der Schule waren die anderen Kinder etwas Besseres, zum Beispiel der Sohn des regierenden Bürgermeisters.

Als Matthias Lilienthal 14 war, kauften die Eltern ein Reihenhaus in der Gropiusstadt. Und erzählten eines Abends so begeistert von einem Theaterbesuch, dass ihr Sohn sich gleich auf die Socken machte, bald schon zum Inventar der Schaubühne gehörte und sich begeistert Inszenierungen von Peter Stein anschaute, auf der Bühne Jutta Lampe und Bruno Ganz.

Das Theater war die ideale Gegenwelt zur Gropiusstadt und zu Neukölln, sagt Lilienthal, es versprach Freiheit und Abenteuer. Er sah Peymann, er sah Zadek, ging auf Hausbesetzerdemos, wurde verhaftet und wieder entlassen – und fand Westberlin bald nicht mehr aufregend genug.

Er fuhr nach Ostberlin und ging dort ins Theater, Gosch inszenierte Leonce und Lena, und Lilienthal sah, wie das Publikum reagierte: »In einer Intensität, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Theater in Ostberlin spielte eine extrem oppositionelle Rolle. Es war das pure Aufbegehren.«

Unter Pseudonym schrieb er Theaterkritiken für die taz, hing auf Partys rum, auf denen es unendlich viel Alkohol gab und unendlich viel gequatscht wurde, weil alle unendlich viel Zeit hatten, ein ganz anderer Takt als in Westberlin. Aber um Mitternacht musste er zurück. Noch heute, sagen seine Mitarbeiter, kann man sicher sein, dass es gerade Mitternacht schlägt, wenn Matthias Lilienthal eine Party verlässt.

Lilienthal studierte dann Theaterwissenschaften, Geschichte und Germanistik. Nach zehn Jahren brach er das Studium ab, hospitierte am Burgtheater in Wien, machte Regieassistenz, und während das Burgtheater noch überlegte, ob es ihn übernehmen sollte, holte Frank Baumbauer ihn als Dramaturg nach Basel. Dort arbeitete er mit dem damals unbekannten Christoph Marthaler und versuchte, Baumbauer davon zu überzeugen, Frank Castorf zu engagieren. Dann machte Castorf ihm ein Angebot, und er ging nach Berlin, zur Volksbühne.

Jetzt würde die Geschichte passen, wie er und Frank Castorf Freunde wurden. Aber Lilienthal guckt gehetzt, muss los, ins Theater. Er schaut sich gerade alles an, was in München läuft.

»Ich brauche gerade nur eher Performer als dramatische Schauspieler.«

Wenn Matthias Lilienthal ein Zelt auf einem Parkdeck aufschlägt, ist das typisch für seine Art, Hirngespinste in die Tat umzusetzen - in diesem Fall das Thema Wohnen in München aufzugreifen.

Am nächsten Tag schickt er eine SMS. Er hat die Wohnung nicht genommen. Nächste Woche trifft er sich mit einem Schweizer Regisseur, da könne man, wenn man möchte, erleben, wie der Job so ist. Wie viel man so rede in seinem Job. Vor allem über Dinge, die total in der Schwebe sind. Oder aus denen nichts wird.

Der Regisseur heißt Boris Nikitin. Mit am Tisch im »Blauen Haus« sitzt der Direktor der Otto-Falckenberg-Schule für Schauspiel und Regie, Jochen Noch, schwarz umrandete Brille, schwarzes Hemd, schwarze Hose. Lilienthal trägt unter der Kapuzenjacke ein T-Shirt in Orange. Die drei Männer reden über die Schauspielschüler, die jedes Jahr nach Berlin, Neuss und München zu den großen Vorsprechen gescheucht werden und sich dort Regisseuren und Intendanten anbieten. Nikitin schildert, wie er das Intendantenvorsprechen zu einem Stück verarbeiten könnte. Mit echten Schauspielschülern. Damit wäre das Spiel gleichzeitig eine reale Bewerbungssituation. Lilienthal kaut auf der Unterlippe, zieht die Ärmel seiner Kapuzenjacke über die Ellbogen und steckt die Hände unter die Achseln.

Dann sagt er, dass er Bedenken hat. Das Projekt könnte die Schauspielschüler beschädigen. Er erzählt von einem Erlebnis mit einem Schauspielschüler, das ihn noch beschäftigt: »Ich mache dem Hoffnungen, und er kommt und spricht vor und brennt so, dass er sich verletzt und blutet, so viel gibt der. Da sind unglaubliche Emotionen im Spiel. Das ist ein toller Schauspieler, der hat Kraft, der wird seinen Weg gehen. Ich brauche gerade nur eher Performer als dramatische Schauspieler. Aber ich schäme mich, dass ich den im Sommer angebaggert hab – und jetzt einen Rückzieher mache.« Er schiebt die Lesebrille auf die Stirn, seine braunen Augen sind ernst.

Wenn man Leute fragt, die Matthias Lilienthal länger kennen, sagen sie, dass er die Auseinandersetzung braucht, das Risiko liebt und beim Managen von Katastrophen zur Höchstform aufläuft. Sie sagen, dass in seinem Kopf eine unglaubliche Ordnung herrschen muss, dass er arbeitet wie ein Tier, andere fantastisch motivieren kann, aber auch fantastisch hohe Ansprüche stellt und Menschen an ihre Grenzen bringt. Dass er gut kocht und seine Leute oft einlädt, gern mit Frauen arbeitet, indiskrete Fragen stellt und ein tiefes Misstrauen gegenüber funk-tionierenden Systemen hat. Sie sagen, dass er Regisseure, die er nicht haben kann, umso dringender haben möchte. Sie sagen, dass er ein unglaubliches Gespür für Kunst und künstlerische Vorgänge hat, dass sein Understatement auch eine Strategie, seine Stillosigkeit ein Stilmittel, das gelbe T-Shirt eine Marke ist, dass er launisch ist und auf bestürzende Art unfähig zum Small Talk sein kann. Aber sie sagen auch, und das sagen sie alle als Erstes und fast andächtig: wie menschlich er ist. Egal wie viel Druck er hat, egal wie stressig es ist, er sieht die anderen. Er nimmt sie wahr. Sie sind ihm wichtig.

Zwei Monate später, Schnee liegt in der Luft, als Matthias Lilienthal neben seinem künftigen Chefdramaturgen Benjamin von Blomberg mit Rollkoffer am Bahnsteig steht und auf den Zug wartet. Lilienthal telefoniert. Auf seinem Handy steckt ein zusätzlicher externer Akku, weil er so viel telefoniert.

In Erlangen treffen die beiden Halil Altindere, einen der bedeutendsten Künstler der Türkei, der gerade in Erlangen ausstellt. Benjamin von Blomberg ist Fan von dessen Videoarbeit Wonderland und wünscht sich eine Zusammenarbeit mit den Kammerspielen. Halil Altindere führt durch die Ausstellung, von Blomberg fragt, lacht, schwärmt, scherzt, sagt Oh und Ah. Lilienthal schlurft zehn Meter hinterher, in sich gekehrt, still, nachdenklich bis missmutig.

Nach dem Rundgang wird geredet. Halil Altindere lehnt neben seiner Partnerin Esra, die übersetzt, an der Wand. Gegenüber sitzt Lilienthal neben Benjamin von Blomberg auf einer Bank. Lilienthal fragt: »Hast du eine Idee, die du immer schon realisieren wolltest, es aber nie getan hast?« Er grinst und erklärt: »Das ist die berühmte Hans-Ulrich-Obrist-Frage.«

Altindere sagt: »Ich hasse Theater.«

»Ich auch, manchmal«, sagt Lilienthal. Grinsen. »Jedenfalls das Theater, das so tut, als lebten wir noch in Tschechows Zeit.«

Dann steht Matthias Lilienthal auf, geht auf die andere Seite, lehnt sich an die Wand neben Halil Altindere und Esra, rutscht immer tiefer, bis er im Schneidersitz auf dem Boden sitzt, mit dem Rücken zur Wand.

Später im ICE zurück nach München sagt er: »Ich dachte plötzlich, die Deutschen sitzen und die Türken stehen, das ist blöd.« Erschöpft lässt er sich auf eine Bank im Speisewagen fallen. Seine Arbeitstage haben jetzt 14 Stunden. In jeder Besprechung klopft das Handy ungefähr fünfmal leise an. Er geht immer ran. Muss er wohl.

Er bestellt Nürnberger Rostbratwürstchen und eine Apfelschorle. Ein halbes Jahr ist er jetzt in München. »Ich wundere mich, wie schnell ich in München angekommen bin. Auch wenn ich nicht so aussehe.« Grinsen. Er zupft am Kragen seines orangefarbenen T-Shirts. Er kann es nicht lassen.

Er geht nicht mehr bei Rot über die Ampel, sagt er. Er findet die Gasthäuser in München super. Er mag irgendwie sogar, dass die Münchner alles ernst nehmen – während die Berliner immer ironisch sind. Aber darum handeln die Münchner eben auch. Er mag, dass es in München eine Gesellschaft gibt, mit der man sich streiten kann. Und wenn er jetzt in Berlin auf eine Party geht, kommt ihm alles »dreckig und abgefuckt« vor.

Berlin. Wäre jetzt nicht wieder eine Gelegenheit, von Frank Castorf und dem Ende der Freundschaft zu erzählen? Lilienthal nickt. Er kannte Castorf schon, da war der noch das Enfant terrible des Ostens und galt als Junggenie. »Wir wurden wirklich Freun-de. Dann holte er mich an die Volksbühne, gab mir diese großartige Chance. Es lief toll, es war ein Abenteuerspielplatz. Aber einmal saßen wir in großer Runde beim Abendessen, nach mehr als acht Jahren großartiger Zusammenarbeit, da schrie Frank quer über den Tisch, dass die Volksbühne beschissen läuft und dass ich der Grund dafür sei.«

Lilienthal macht eine kleine Pause. »Ich hab gesagt, Frank, du bist ein glücklicher Mensch, dir kann geholfen werden, tschüss. Ich hab sofort gekündigt, denn in den vielen Jahren mit Castorf hatte ich gelernt: Wenn das Meckern anfängt, lässt du am besten dein Essen stehen und gehst.«

Am nächsten Morgen sieht Lilienthal mitgenommen aus. Als er gestern aus dem Zug stieg, sagt er, da ist es ihm so spät vorgekommen, dass er zu Karstadt gehetzt ist und schnell noch die wichtigsten Dinge ein-
gekauft hat. Als er rauskam, hat er erstaunt festgestellt, dass es erst halb sieben war.

Um zehn Uhr beginnt die wöchentliche Sitzung mit der Geschäftsführung. Oliver Beckmann, geschäftsführender Direktor, schmal, durchtrainiert, graue Anzughose, mintgrünes Hemd mit großem Kragen, schwarzer Pulli, und Lilienthal, die graue Kapuze im Nacken, sitzen sich am Konferenztisch gegenüber. Beckmann serviert grünen Tee und blättert in seinen Papieren. Sie reden über Tagesgagen, Monatsgagen, Geld für freie Gruppen, Geld für Ausrüstung. Lilienthal sagt, natürlich werden die freien Gruppen auch mit dem Ensemble der Kammerspiele arbeiten, und die sind ja sowieso auf der Pay Roll.

Dann fragt Beckmann: »Was bieten wir für den Houellebecq?«

»Exklusiv ist mir wurscht«, sagt Lilienthal und schiebt seine Lesebrille auf die hohe Stirn. »Erstaufführung möchte ich aber haben. Und dann spielen wir den bis Sommer 2018.«

»Wir können den gar nicht so oft aufführen, dass wir auf null kommen.«

»Ist mir klar, dass wir da Knete zum Fenster rauswerfen. Wir können natürlich auch weniger bieten und die Zweiten sein. Wenn die Erstaufführung schon gelaufen ist, sind die Erwartungen nicht mehr so hoch.«

So geht es hin und her. Beckmann sagt, welche Summe er für »den richtigen Aufschlag« hält und dass die Chancen gut stehen für die Kammerspiele, weil sie Houellebecq schon oft gezeigt haben. Lilienthal nickt.

Themenwechsel. Beckmann: »Hast du gesehen, was Benjamin geschickt hat?«

»So wuschig, wie ich immer gucke …«, sagt Lilienthal, schiebt sich die Brille wieder vor die Augen und überfliegt die Papiere, die vor ihm liegen, noch mal. Hinter einige der Zahlen hat jemand mit Bleistift kleine Fragezeichen geschrieben.

»Ich fürchte, das Budget reicht nicht für Repertoire und Gäste«, erklärt Beckmann. Lilienthal nickt. »Doch, doch. Hab ich alles im Griff, Olli.«

»Nee, ich hab das im Griff.«

Beckmann grinst. Lilienthal grinst auch.

Nach der Sitzung hat Lilienthal es eilig. Man kann richtig zusehen, wie sein Leben jetzt Fahrt aufnimmt. Am Nachmittag fliegt er nach Vilnius, die Woche drauf nach Seoul. Vorgestern ist er endlich umgezogen. Die Jungs, die ihm geholfen haben, waren überrascht, dass er alles mitnahm aus Berlin. Alle anderen scheinen es seltsam zu finden, nur für ihn ist und war schon lange klar: Er lebt jetzt in München. Aber er wird natürlich beruflich oft in Berlin sein.

In Berlin hat Lilienthal seinen Sohn, Paul, 18. Paul möchte Wirtschaftsmathematik in London studieren. Mit Paul und Pauls Mutter hat Lilienthal 15 Jahre zusammen-gelebt. Er wollte gerade mit seiner jetzigen Freundin zusammenziehen, als das München-Angebot kam. In dem bisschen Privatleben, das ihm bleibt, ist Lilienthal ein Beziehungsmensch. Weihnachten feiert er mit Paul, Pauls Mutter, seiner Freundin, seinen Geschwistern und ihren Partnern. Und alle, die ihn kennen, erzählen, wenn ihm etwas heilig war jenseits der Arbeit, dann die Verabredungen mit seinem Sohn.

Mit seiner Freundin ist es nun so verab-redet, dass sie sich gegenseitig einmal im Monat besuchen. Aber beruflich und privat, sagt Matthias Lilienthal, wird sauber getrennt. Ein Satz, der gar nicht richtig passt zu ihm. Zumal er sich mit einem anderen Satz selbst widerspricht: »Privat ist bei mir nicht.«

Aber Widersprüche stören Lilienthal nicht, sie scheinen ihn eher zu beflügeln. »Beim Übergang vom HAU an die Kammerspiele kommst du dir vor, als würdest du vom Handball zum Basketball wechseln, so anders sind die Regeln«, hat er bei einem der ersten Treffen gesagt.

Zum Abschied sagt er: »Ich möchte ein Spiel etablieren, das eine wilde Kombination aus Handball und Basketball ist.« Er zeigt auf die Parkgarage gegenüber den Kammerspielen. Auf das oberste Deck würde er gern Zelte stellen. Für Architekten von außerhalb, die temporäre Wohnungen im öffentlichen Raum München errichten. Auf dem Bürgersteig der Maximilianstraße oder an der Isar. Die Übernachtung ist dann die Theatervorstellung. »Da schlafen, wo man eigentlich nicht schlafen darf«, erklärt er. Er grinst und bestellt bei seiner Assistentin ein Zelt und einen Schlafsack. Um zu gucken, wie es sich anfühlt, in einem Zelt auf einem Parkdeck zu liegen.

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Matthias Lilienthal
Der heute 55-Jährige gehört zu den Intendanten, die nicht selbst inszenieren: Lilienthal brach das Theaterwissenschaft-Studium nach zehn Jahren ab, war freier Journalist, Regieassistent am Burgtheater Wien, Dramaturg bei Frank Baumbauer in Basel, Chefdramaturg bei Frank Castorf an der Berliner Volksbühne. Darauf folgten neun Jahre Intendanz am HAU in Berlin. 2014 verband er die Festivalleitung des »Theaters der Welt« in Mannheim mit einer Professur in Beirut. Im Herbst beginnt Lilienthals erste Spielzeit an den Münchner Kammerspielen.

Fotos: Armin Smailovic