Vor gut vier Jahren veröffentlichte die britische Vogue eine Geschichte mit dem Titel »Dekolleté verzweifelt gesucht« und beschäftigte sich mit der Frage, wo plötzlich all die tiefen Ausschnitte geblieben waren. Die Frauen, zumindest die in der Öffentlichkeit und auf Laufstegen, hätten beinahe gänzlich »dicht gemacht«; was damals übrigens lediglich bedeutete, sich halbwegs hochgeschlossene Oberteile anzuziehen, und noch nicht, wie heute, ganze Kommunen oder Länder abzuschließen.
Die Konsequenzen hatten ebenfalls nicht ganz dieselbe Tragweite. Es gingen keine Volkswirtschaften mit dem verhüllten Busen zu Grunde, aber vielleicht doch eine gewisse Erotik – oder eben ein bestimmter Sexismus. Welches von beiden, Erotik oder Sexismus, und ob die neue Verschlusssache in der Mode jetzt grundsätzlich gut oder schlecht war, konnten auch die Debatten auf Twitter damals nicht hinlänglich klären. Als Gegenbeweise wurden aber regelmäßig Katy Perry, Kim Kardashian oder Salma Hayek angeführt. Nicht alle hatten dicht gemacht oder hielten sich an die neuen Maßnahmen, das zumindest bleibt wie gehabt.
Umso größer ist jedenfalls nun der, sagen wir, Hallo-Effekt, wo das Dekolleté plötzlich zurückkehrt. Nicht im wirklichen Leben versteht sich, wir haben ja Winter, außerdem Corona, ausschnittmäßig also den doppelten Lockdown. Aber in der aktuellen Netflix-Erfolgsserie Bridgerton, eine Art Gossip Girl meets Jane Austen, die in der High Society Londons Anfang des 19. Jahrhunderts spielt, sind die von Korsetts hochgepushten Busen überpräsent, ebenso in der Hulu-Serie The Great mit Elle Fanning. In Bridgerton werden nicht nur die Mieder der heiratsfähigen Mädchen bis zum Anschlag geschnürt, damit wie bei einem Trichter die Taille möglichst schmal, die Oberweite dafür umso üppiger ausfällt, auch bei den älteren Frauen der Gesellschaft sieht man die Brüste sich heben und beben. (Tendenz: Je höher der Stand, desto höher auch der Ausschnitt. Mit zunehmendem Alter steigt dann ganz generell die Freizügigkeit.)
Schlimm? Vulgär? Aus der Zeit gefallen? Irgendwie nicht. Selbst als Frau ertappt man sich gelegentlich bei so etwas wie Wiedersehensfreude oder nackter Nostalgie und denkt: Stimmt! Da war ja mal was! Lang nicht mehr gesehen. Vielleicht ist das alles nur ein später Phantomschmerz der ausgefallenen Wiesn. Andererseits wird die Serie weltweit eifrig gesprochen, was – Achtung, Spoileralert – weniger am elaborierten Plot liegt, sondern vor allem an einem genüsslich Silberware abschleckenden Darsteller (siehe den 17,8 Tsd. Follower zählenden Instagram-Account @thedukespoon), den dann doch zahlreichen Sexszenen und eben den knalligen Kostümen.
Bekanntlich werden Filme und Serien gerade mehr denn je zur Realitätsflucht genutzt, es ist also vieles recht, was sonst grober Unfug wäre. Aber laut dem Guardian sind die Korsettverkäufe auf ebay bereits um beinahe 50 Prozent gestiegen, auf der Seite von Newsweek begegnen einem neuerdings Advertorials für Unterwäsche, um »diesen Bridgerton-Look« hinzukriegen. Und nein, um Karneval geht es dabei sicher nicht, der fällt ja dieses Jahr sowieso flach.
Ist das Dekolleté also tatsächlich zurück? Nach Jahren des »Midriffs«, in denen lieber unverfänglich der Bauch freigelegt wurde? Zumindest auf den Laufstegen für dieses Frühjahr war noch keine echte Abkehr von moderaten Ausschnitten zu erkennen, lediglich bei Versace natürlich, die sich nie wirklich vom Busen verabschiedeten. Allerdings wurden die Designs alle vor dem Bridgerton-Hype entworfen, insofern dürften erst die Golden Globes Ende Februar ein bisschen Aufschluss geben.
Vielleicht werden die ganzen Korsetts auch nur für die nächste Corona-Challenge gekauft: Statt sich wie im Frühjahr Kissen mit Gürteln umzuschnallen oder Spitzen-Krägen aus alten Tischdecken zu nähen, werden jetzt womöglich überall Bridgerton-Dekolletés geschnürt. Sie würden zumindest perfekt ins Zeitalter des Zoom-Ausschnitts passen.
Typischer Instagram-Kommentar: »Einatmen, ausatmen.«
Das sagt die Mutter: »So gehst du mir aber nicht vor die Tür!«
Das sagt die Tochter: »Keine Sorge.«