Ein kostbares Geschenk

Mehr Menschen in Deutschland sollten ihre Organe spenden, da sind sich alle einig. Doch der Vorschlag von Jens Spahn geht in die falsche Richtung. Er verkennt: Nicht Tote geben ihre Organe - sondern Sterbende.

Dioxin/photocase.de

Vor einer Woche hat Gesundheitsminister Jens Spahn eine Debatte über Organspende in Gang gesetzt, die ihm jede Menge  sowohl kritische als auch wohlwollende Aufmerksamkeit eingebracht hat. Spahn hatte dafür plädiert, in Deutschland die sogenannte Widerspruchslösung einzuführen, wie sie in den meisten anderen europäischen Ländern praktiziert wird. Danach gilt jeder Mensch als potentieller Organspender, wenn er nicht zu Lebzeiten ausdrücklich widerspricht. In Deutschland läuft das bislang umgekehrt: Organe spendet nur, wer sich zu Lebzeiten dazu bereit erklärt hat - etwa mittels eines Organspendeausweises oder im Gespräch mit den nächsten Angehörigen.

Nun gibt es bei der Organspende zwei Perspektiven und nur eine von beiden ist ganz klar und eindeutig: die des Organempfängers. Wer todkrank ist und weiß, dass ihm nur ein Spenderorgan das Leben retten kann, der will verständlicherweise, dass es mehr Spenderorgane gibt. Und die Widerspruchslösung würde die Zahl der Spenden vermutlich tatsächlich erhöhen, schließlich kostet es mehr Mühe, einer Sache ausdrücklich zuzustimmen als sie einfach nur nicht zu verhindern.

Auch in Deutschland sind mehr als 80 Prozent der Menschen theoretisch bereit dazu, ihre Organe zu spenden – jedenfalls suggerieren das diverse Umfragen. So ganz genau mit dem Thema befassen möchte sich aber eigentlich niemand. Es gehört nicht zu den liebsten Beschäftigungen des Menschen, über den Tod nachzudenken oder gar zu sprechen, nichts verdrängt sich im Alltag leichter als die Tatsache, dass ein vergessener Schulterblick auf der Autobahn oder ein blöder Sturz auf rutschigen Badezimmerkacheln ausreichen kann, um einen mitten aus dem Leben zu reißen.

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Wenn man über Organspende redet und die gesetzliche Ausgestaltung der Organgewinnung, dann muss man aber auch über das Sterben reden. Dann muss man auch die zweite Perspektive betrachten – und das ist die des Organspenders. Die ist längst nicht so eindeutig, wie viele glauben. Die Organe werden nämlich nicht einem kalten Leichnam kurz vor der Beerdigung entnommen, sondern einem Menschen, der zwar juristisch als tot gilt, eigentlich aber noch ein Sterbender ist. Ein unrettbar Todgeweihter zwar, aber eben noch kein Leichnam.

Die Organspende ist ja überhaupt nur möglich, weil die Intensivmedizin dank der Herz-Lungenmaschine ein Zeitfenster schaffen kann, in dem ein Mensch, dessen Gehirn als zentrale Steuereinheit des Körpers und als Sitz des Bewusstseins gänzlich und unwiderbringlich zerstört ist, trotzdem noch einen vitalen Körper behält, in dem alle Organe weiter funktionieren. Hirntote Menschen können zwar nichts fühlen, denken oder wahrnehmen, aber sie haben trotzdem eine funktionierende Verdauung, ein funktionierendes Immunsystem, sie können theoretisch sogar schwanger werden und ein Kind austragen.

Da in Deutschland immer noch viel zu wenige Menschen einen Organspendeausweis haben, auf dem man übrigens auch angeben kann, dass man keine Organe spenden will, obliegt es oft den nächsten Angehörigen, darüber zu entscheiden, ob eine Spende im Sinne ihres hirntoten Kindes oder ihres verunglückten Partner oder Elternteils wäre. Das bedeutet dann konkret, sich von einem geliebten Menschen zu verabschieden, dessen Haut warm ist, dessen Herz schlägt, dessen Brust sich Dank der Beatmung hebt und senkt, wissend, dass dieser Mensch nun einmal vom Schlüsselbein bis zum Schambein aufgeschnitten wird - in aller Regel ohne Narkose übrigens, denn ein Hirntoter kann keinen Schmerz mehr empfinden – und das schlagende Herz auf dem OP-Tisch zum Stillstand gebracht und zusammen mit den übrigen inneren Organen entnommen wird. Erst dann folgt der Körper dem Bewusstsein in den Tod.

Viele Angehörige finden Trost in der Vorstellung, dem plötzlichen Tod eines geliebten Menschen noch etwas Positives abringen zu können, nämlich, jemand anderem das Leben zu retten. Umso eher, wenn sie sicher sein können, dass ihr totes Kind, ihr toter Partner, ihre tote Mutter genau das gewollt hat. Es ist trotzdem nicht einfach, eine Organspende zu verkraften. Nicht jeder hat schließlich einen rein funktionalen Blick auf den Körper. Nicht für jeden sitzt das Wesen des Menschen, seine Seele, allein im Gehirn.

Gerade weil eine Organspende ein so massiver Eingriff in den Sterbeprozess ist, ist es so wichtig, sich darüber zu informieren und sich dann willentlich und freiwillig dafür oder dagegen zu entscheiden. Darauf zu setzen, dass die Spenderzahlen durch eine Widerspruchslösung steigen, weil viele Menschen genau das nicht tun, ist zynisch, schließlich geschieht das ja nicht immer aus Faulheit oder Desinteresse. Es gibt sprachliche, soziale oder auch psychische Gründe, warum ein Mensch nicht in der Lage sein kann, sich mit den genauen Gegebenheiten einer Organspende zu befassen. Für sie und ihre Angehörigen hieße es dann nach Einführung einer Widerspruchslösung: Tja, Pech gehabt, man hätte ja rechtzeitig nein sagen können.

Wenn Jens Spahn die Spenderzahlen in Deutschland erhöhen möchte,  – und das wäre den vielen Verzweifelten auf den Organwartelisten ausdrücklich zu wünschen –, dann hätte er tatsächlich ein paar Mittel, um genau das zu erreichen, ganz ohne Widerspruchslösung. Einige davon hat er ja auch schon angekündigt: Er will daran arbeiten, die Situation in Krankenhäusern so zu verbessern, dass potentielle Organspender überhaupt erkannt und gemeldet werden, denn bislang ist es viel lukrativer, ein Bett mit einem neuen Intensivpatienten zu belegen, als einen Organspender zu versorgen.

Er könnte darüber hinaus Gegebenheiten schaffen, in denen Ärztinnen, Ärzte und Pflegepersonal auch tatsächlich Zeit und Ressourcen haben, um ausführlich mit geschockten und trauernden Angehörigen zu sprechen und sie während des Organspendeprozesses besser zu begleiten. Er könnte eine Debatte anregen, die die Menschen dazu bringt, mit ihren Liebsten über das Sterben zu sprechen, auch wenn es unangenehm ist. Und er könnte ein Bewusstsein dafür schaffen, was für ein kostbares und wertvolles Geschenk es ist, wenn jemand bereit ist, seine Organe zu spenden. Und zwar freiwillig, aus dem Bedürfnis heraus, einem anderen, völlig fremden Menschen noch ein paar Lebensjahre zu schenken. Nicht, weil er nicht in der Lage war oder einfach vergessen hat, rechtzeitig nein zu sagen.