SZ-Magazin: Man nennt Sie gelegentlich die »Königin der Selbsthilfe-Ratgeber«. Warum gefällt Ihnen diese Bezeichnung nicht?
Brené Brown: Weil ich Forscherin bin und Kulturkritik übe. Einen Mann würde man nie so nennen, selbst wenn er jede Zeile in meinen Büchern so wie ich geschrieben hätte. »Selbsthilfe-Ratgeber« ist ein herabwürdigender Begriff. Außerdem ist er falsch. Ich glaube nicht, dass wir uns immer selbst helfen können. Das vorrangige Ergebnis meiner Arbeit als Sozialwissenschaftlerin lautet: Wir brauchen uns gegenseitig. Wir sind neurobiologisch so verdrahtet, in Verbindung miteinander zu sein. Und das Fehlen von Gemeinschaft bedeutet Leiden. Jeder Mensch ist auf andere angewiesen.
Drei Ihrer Bücher standen in den USA auf Platz eins der Bestsellerliste der New York Times, Oprah Wintrey hat Sie in ihre Talkshow eingeladen, Ihr 18 Minuten langer Vortrag auf einer TED-Konferenz wurde 32 Millionen Mal auf Youtube angeklickt …
Inzwischen sind es 36 Millionen. Verrückt, nicht wahr?
Sie sind jedenfalls keine gewöhnliche Professorin für Sozialarbeit. Ihr Forschungsgebiet an der Universität Houston lautet »Verletzlichkeit und Scham«. Und Sie geben den Menschen durchaus Ratschläge: Schämt euch nicht. Vertraut euch Freunden an. Zeigt euch verletzlich.
Okay, ein paar wenige Ratschläge gebe ich tatsächlich. Aber im Grunde erzähle ich den Leuten nur, was sich aus meinen Studien und Interviews mit Tausenden von Leuten ergeben hat und was die Forschungsergebnisse bei mir persönlich bewirkt haben. Dass so viele Leser mit meiner Arbeit etwas anfangen können, liegt wahrscheinlich daran, dass ich ehrlich von meinen eigenen Schwierigkeiten berichte.
In dem Vortrag, der Sie 2010 berühmt machte, erzählten Sie von Ihrem Nervenzusammenbruch, den Ihre Forschungsergebnisse ausgelöst hatten.
Nennen wir es spirituelle Krise. C.G. Jung hätte von einer langen Nacht der Seele gesprochen. Ich stellte mit 40 plötzlich fest, dass dies nicht das Leben war, das ich leben wollte. Ich wollte mich nicht länger davon abhängig machen, was andere von mir dachten. Vor meiner Krise 2007 hatte ich mich ständig so verhalten, wie ich dachte, dass die Leute mich haben wollen. Seitdem bin ich mehr ich selbst.
Was hat das mit Verletzlichkeit zu tun?
Ich bin in Texas aufgewachsen. Durchbeißen, nicht jammern, hieß mein Motto. Ich habe nie gelernt, mit Unsicherheit und emotionalen Risiken umzugehen. Meine eigene Verletzlichkeit habe ich verborgen, indem ich mich an Zahlen, an vermeintliche Sicherheiten klammerte. Bis meine Forschungsergebnisse mir deutlich machten, dass Menschen, die sich ihrer Verletzlichkeit und Scham stellen und größere Risiken eingehen, auch eher positive Gefühle erleben können: Liebe, Verbundenheit, Vertrauen, Freude, Kreativität. Scham ist ein unangenehmes Gefühl. Man hat das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben und deswegen keine Liebe zu verdienen. Wir haben Angst, dass andere uns ablehnen, sobald sie wissen, wie es in unserem Inneren aussieht. Es erfordert Mut, seine Schattenseiten zu zeigen. Aber nur wer sich verletzlich zeigt, erfährt Verbundenheit und kann die eigene Scham überwinden.
Was verstehen Sie unter Verletzlichkeit?
Die wissenschaftliche Definition ist einfach: Bereitschaft zu Unsicherheit, Risiko und emotionaler Exposition.
Was ist der für Ihre Forschung bedeutendere Begriff: Verletzlichkeit oder Scham?
Verletzlichkeit. Sie ist der Schlüssel zu all unseren Gefühlen, den dunklen wie den hellen. Wenn ich übrigens auf einer Party gefragt werde, was ich tue, und ich will mich weiter mit der Person unterhalten, antworte ich: Ich bin Verletzlichkeitsforscherin. Nach fünf Minuten vertrauen mir die Leute in der Regel ihre Lebensgeschichte an. Wenn ich keine Lust habe, mich weiter zu unterhalten, sage ich Scham-Forscherin. So wird man jemanden ganz schnell los.
Was ist so schlecht an Scham?
Scham ist nicht produktiv. Sie lähmt. Wer sich schämt, fühlt sich einfach nur schlecht, wertlos und isoliert. Scham ist nie gesund. Wer sich dagegen schuldig fühlt, ändert etwas an seinem Verhalten.
Wie vertreibt Verletzlichkeit die Scham?
Reden. Sich anvertrauen. Jemand muss mit Empathie und Verständnis reagieren, damit Scham vergeht.
Sie meinen, so wie bei Ihren Vorträgen? Man soll in aller Öffentlichkeit Privates erzählen?
Eher nicht. Entscheidend ist ja die Reaktion auf unsere peinlichen Geschichten. Bei meinen Vorträgen erzähle ich nur Persönliches, das zuvor schon meine Freunde oder meine Familie zu hören bekamen. Nie würde ich öffentlich eine Geschichte preisgeben, bei der mir die Reaktion des Zuhörers wichtig wäre. Zu dem Zeitpunkt habe ich jede Geschichte schon quergeprüft.
Mussten Sie Ihre Scham überwinden, um bei Ihrem ersten TED-Vortrag über Ihre persönliche Krise zu sprechen?
In gewisser Weise schon: Dieser erste öffentliche Vortrag hat mich gezwungen, von der Vorstellung abzulassen, ich könnte irgendwie kontrollieren, was Menschen über mich denken. Zuvor war ich sehr vorsichtig und habe mein Wirken auf andere gemanagt. Und plötzlich stand ich da vor 500 Zuschauern. Dass der Vortrag gefilmt wurde und ihn sich letztlich Millionen ansehen könnten, wusste ich damals nicht. Dann hätte ich mich womöglich gar nicht getraut.
»Wer seine Mitarbeiter misshandelt, kein Vertrauen aufbaut und nicht darüber redet, was menschlich ist, drängt Arbeitnehmer in zwei Positionen: Kampf oder Resignation«
Sie haben nach Ihrer Krise eine Therapie begonnen. Meinen Sie, das hilft, Scham zu überwinden?
Nein, ein Therapeut ist kein mitfühlender Freund. Er ist nur trainiert, einen Raum zu schaffen, in dem man erforschen kann, was man fühlt und denkt, ohne es gleich zu beurteilen. Manchmal habe ich mich nur hingesetzt und 30 Minuten lang geredet.
Wie also überwindet man Scham?
Scham kann nur existieren, wenn man sich allein glaubt und denkt, man sei der Einzige, dem etwas Peinliches passiert ist. Scham überwindet man durch die Verbindung zu anderen Menschen und durch das Wissen, dass jede menschliche Erfahrung geteilt wird. Empathie ist das Gegengift zu Scham. Wenn ich Sie anrufe und sage: Oh mein Gott, du wirst mir nicht glauben, was mir Peinliches passiert ist, und Sie sagen: Das kenne ich, mir ist mal was Ähnliches passiert. In unserer Kultur besteht noch immer ein großer Druck, seine Gefühle unter Kontrolle zu haben.
Ist Verletzlichkeit zu zeigen als Maxime im Berufsleben schwieriger durchzusetzen als im Privatleben?
Meine Mitarbeiter und ich beraten ja mittlerweile globale Wirtschaftsunternehmen und erklären die Bedeutung von Verletzlichkeit in der Wirtschaft. Früher brauchte ich immer lange, um den Kunden klarzumachen, warum das gut sein soll. Mittlerweile stelle ich Führungskräften nur noch eine Frage: Erzählen Sie mir von einer mutigen Handlung oder Entscheidung, die Sie miterlebt oder initiiert haben, die nicht ein hohes Maß an Risiko, Unsicherheit und emotionaler Bloßstellung mit sich führte. Gibt es nicht. Es gibt keinen Mut ohne Verletzlichkeit. Jede Firma auf der ganzen Welt verlangt nach mutiger Führung und klugen Risiken, um Innovation, Kreativität und Vertrauen zu ermöglichen. All diese Dinge basieren auf Verletzlichkeit.
Wie sieht Ihre Arbeit in Unternehmen konkret aus?
Wir haben ein spezielles Training entwickelt, mit dem Mut aufgebaut werden kann. Es funktioniert auch online. Alle können dieses Programm absolvieren, vom Vorstandsvorsitzenden bis zum Hausmeister, mit denselben Inhalten.
Wer ist in der Regel schwieriger vom Wert der Verletzlichkeit zu überzeugen? Arbeitgeber oder Arbeitnehmer?
Das macht keinen großen Unterschied aus. Aber es kommt auf die Arbeitgeber an. Arbeitnehmer mit Chefs, die Verletzlichkeit bestrafen, verändern sich nicht. Wenn ich denen erzähle: Seien Sie mutig, erzählen Sie Ihrem Boss, was Sie irritiert, riskieren Sie etwas, nehmen Sie Niederlagen in Kauf, lernen Sie draus – das ist gefährlich, wenn ein Boss dieses Verhalten bestraft. Deshalb gehe ich in kein Unternehmen, in dem nicht die Führungsebene mitmacht.
Tun sich Frauen leichter mit Verletzlichkeit?
Nein. Das hat mit dem spezifisch weiblichen Schamempfinden zu tun. Für Frauen heißt die kulturelle Botschaft in der Gesellschaft: Mach alles, mach es perfekt und lass es niemals anstrengend aussehen. Verletzlichkeit lässt uns sagen: Ich kann nicht immer alles zugleich. Aber dieses Eingeständnis unterspült unser Bemühen um Perfektionismus.
Wofür schämen sich Männer?
Schwach zu wirken. Männer schämen sich für Niederlagen. Auf dem Fußballplatz, in der Ehe, im Bett. Beim Geld. Wenn Männer verletzlich sein wollen und davon erzählen, nehmen andere das als Schwäche wahr. Die kulturellen Botschaften, die diktieren, wie Männer und Frauen im Alltag aufzutreten haben, stehen der Verletzlichkeit im Weg.
Gibt es Gesellschaften ohne Scham?
Vor eineinhalb Jahren habe ich ein Training in London mit firmeninternen Coaches aus 48 verschiedenen Ländern geleitet. Ich fragte jeden, inwiefern Verletzlichkeit in ihrem Kulturkreis auftauche. Jeder kannte ein anderes Sprichwort mit der grundsätzlichen Botschaft: Zeige dich nicht verletzlich.
Glauben Sie, dass die Gesellschaft als Ganzes verletzlicher werden könnte? Gibt es einen Fortschritt in der Beziehung?
Ja. Denken Sie nur an meinen TED-Vortrag: Ein Mädchen aus Texas redet über Verletzlichkeit und bekommt so eine riesige Resonanz. Die Leute sind ausgehungert nach Authentizität. Ich bin mittlerweile auch nicht mehr die Einzige, die auf diesem Gebiet forscht. Es gibt da etliche neue Doktorarbeiten und Habilitationen, inzwischen auch einige andere Lehrstühle. Weltweit.
Die Realität in den meisten Unternehmen sieht anders aus. Entweder die Unternehmen finden einen Weg, die Arbeit wieder zu vermenschlichen, oder sie werden keinen Erfolg haben.
Wie sähe ein guter Chef in Ihrem Sinne aus?
Erfolgreiche, innovative Unternehmensbosse haben drei Dinge gemeinsam: Sie erkennen und verstehen ihre eigenen Gefühle, zweitens die ihrer Angestellten, und sie sind drittens bereit, schwierige Gespräche über schwierige Themen zu führen. Etwa wenn man gemeinsam überlegt, warum ein Termin nicht eingehalten werden konnte oder warum die Kosten aus dem Ufer gelaufen sind. Wer seine Mitarbeiter misshandelt, kein Vertrauen aufbaut und nicht darüber redet, was menschlich ist, drängt Arbeitnehmer in zwei Positionen: Kampf oder Resignation. Die Produktivität geht flöten. Wir wollen den ganzen Menschen an den Arbeitsplatz zurückholen.
Kapitalismus heißt auch: Überleben des Angepasstesten.
Aber eben auch Überleben des glücklichsten Arbeiters, des Innovatisten, des Engagiertesten. Ist Kapitalismus seinem Wesen nach schlecht? Darauf habe ich keine Antwort, ich weiß nur, dass er so, wie wir ihn konzipiert haben, gefährlich ist. Aber so verhält es sich mit vielen Dingen. Ist die Bibel schlecht? Eher nicht. Kann sie zur Waffe werden? Werden in ihrem Namen Menschen misshandelt? Ja, jeden Tag.
Kann man sich auch zu verletzlich geben?
Wenn man dem Falschen etwas zu Intimes erzählt und sich hinterher denkt: Oh, Gott, ich hätte meine Eheprobleme nicht erwähnen dürfen, dann kann ein richtiger Verletzlichkeitskater entstehen. Es gibt Dinge, die sollte man nur dem besten Freund mitteilen. Ein, zwei gute Freunde, denen man sich anvertraut, reichen schon, um seine Scham überwinden.
Wie weit sind Sie bei Ihrer eigenen Überwindung von Scham bisher gekommen?
Scham ist nicht nur ein inneres Gefühl. Es ist ein Bewusstsein für politische, kulturelle, soziale Botschaften, die Scham erzeugen. Ich verfüge heute über mehr Möglichkeiten, gegen meine Scham anzugehen. Diese Fähigkeiten können wir alle lernen, aber immun werden wir nie. Ein Beispiel: Meine Buchvorstellungstour fand gleichzeitig mit dem ersten Schultag meines zwölfjährigen Sohnes nach den Ferien statt. Eine Freundin sagte: Oh Gott, dann versäumst du ja seinen ersten Abend nach der Rückkehr zur Schule? – Ja, da werde ich in New York sein. – Wow. Fühlst du dich da nicht schlecht? – Natürlich sagt das mehr über ihre eigene Seelenlage aus als über mich, aber vor meiner Krise hätte ich mir wohl überlegt, ob ich die Reise absagen sollte. Dieses Mal hat mich das überhaupt nicht tangiert. Das ist für mich ein Fortschritt. Ich habe mich gefragt, bin ich eine schlechte Mutter? Nein. Bin ich nicht. Heute ist mir in dieser Situation nur wichtig, was mein Sohn denkt. Und mein Mann. Die Meinung anderer Leute ist mir völlig egal.
Sie schämen sich also seltener.
Kein Mensch ist frei von Scham. Ich erlebe sie heute weniger stark, und wenn ich sie durchmache, geht sie schneller vorbei. Für mich verlangt Heilen immer ein kulturelles, soziales und psychologisches Verständnis. Ein Psychologe würde in diesem Fall nur nach innen schauen und sich auf meinen inneren Dialog fokussieren. Mich als Sozialwissenschaftlerin interessiert auch der kulturelle Kontext, in dem Scham entsteht: die gesellschaftliche Vorstellung von der guten Mutter, der man entsprechen kann oder nicht. Man darf Faktoren wie Geschlecht, Rasse, Sexualität und auch Klasse nicht ignorieren. Wir neigen dazu, die Realität der Systeme zu ignorieren, in denen wir leben. Und was kann dabei herauskommen, wenn wir versuchen, uns zu ändern, ohne die Systeme zu ändern?
Warum haben manche Menschen von Natur aus weniger Schwierigkeiten, sich verletzlich zu zeigen, und andere mehr? Das ist eine Frage des Selbstwertgefühls. Die Basis dafür wird in der Kindheit gelegt. Die große Gefahr liegt darin, dass wir uns eine Geschichte zurechtlegen, nach der wir nicht liebenswert sind, weil uns jemand nicht geliebt hat, ein Elternteil, ein Partner, ein Freund. So interpretiert man die fehlende Liebe als eigenes Versagen. Man fühlt sich nicht gut genug. Man schämt sich. Der Zeitgeist tut ein Übriges. Wir leben in einer Kultur, in der Menschen sich dafür schämen, sich als normalen Durchschnitt zu begreifen. Dazu trägt jeder bei, der seine Follower bei Instagram mit der Zahl anderer vergleicht.
Sie meinen, wir leben in narzistischen Zeiten?
Kann man sagen, wobei das Wort Narzissmus oft missverstanden wird. Viele nehmen fälschlicherweise an, ein Narzist hätte ein riesiges aufgeblasenes Ego, das sich für grandios hält.
Reden Sie von Donald Trump?
Narzissmus ist die Furcht, durchschnittlich zu sein. Wenn man glaubt, bei jemandem gar keine Scham entdecken zu können und er sich vordergründig so benimmt, als ob er sich für den Größten hält, dann handelt es sich oft um jemanden, der sich ganz klein findet und von Scham getrieben wird.
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