Scheinbar tonnenschwer liegen drei kniehohe Felsbrocken in einer Ecke, grau-grün schimmernd, mit Flechten und Moos überzogen. Unwillkürlich schaut man, ob Käfer darauf herumkrabbeln. Aber die Oberfläche fühlt sich weich an, gepolstert, luxuriös.
Im nächsten Raum ist noch einer, eine Frau sitzt daneben und legt mit einer Nadel letzte Hand an den Bezugsstoff an. Feine Stickereien sollen Steintexturen und Farbschattierungen simulieren. Die Polsterskulpturen sind Teile einer Möbelkollektion, die das schwedische Designstudio Front für den Hersteller Moroso entworfen hat. Sie heißt Design by Nature, umfasst Sitzmöbel und wurde vor ein paar Tagen auf der Design Miami/Basel vorgestellt. Sofia Lagerkvist, die Front zusammen mit ihrer Partnerin Anna Lindgren gegründet hat, sagt bei der Führung durch ihr kleines Studio im Stockholmer Stadtteil Norrmalm: »Uns schwebten Wohnräume vor, die aussehen, als hätte man mit einer gigantischen Schaufel ein Stück Wald ins Zimmer gekippt.«
In den Ateliers von Lagerkvist und Lindgren sieht man schnell, was damit gemeint ist. Da liegen schwere, teppichartige Bezugsstoffe, deren Muster an ausgehobene Waldbodenmatten erinnern. Auf einem Fensterbrett: bunte Steine, krumme Totholzstücke, Moosbüschel, Tannenzapfen. An einer Wand lehnen Baumstämme. Um ein autogroßes Sofamodell aus Karton sind Äste unter die Zimmerdecke geklemmt, als wüchsen Bäume aus dem Boden. Nur die Züge, die hier alle paar Minuten vorbeidonnern auf dem Weg zum nahegelegenen Hauptbahnhof, stören die Illusion. Seit Jahren arbeitet die Möbelbranche an der Ausweitung des Wohnzimmers nach draußen, auf die Terrasse, den Balkon, den Garten, mit wetterfesten Teppichen und Outdoor-Sofalandschaften. Das Studio Front ist den umgekehrten Weg gegangen.
Die Idee zu Design by Nature entstand bereits 2014. Eigentlich sollte die Kollektion voriges Jahr in die Läden kommen, doch die Corona-Pandemie ließ Messen ausfallen und Produktionsketten abbrechen. Dafür passt die Kollektion nun umso besser in die Zeit – zeigen das Virus und der Klimawandel doch, wie schief das Verhältnis zwischen Mensch und Natur geworden ist.
»Bei einem unserer Brainstormings sind wir damals bei einer Frage hängengeblieben, die uns neugierig machte«, erzählt Sofia Lagerkvist: »Wo haben wir uns zuletzt so richtig wohl und geborgen gefühlt?« Anna Lindgren sagt: »Die Antwort war der Wald, wo wir – wie die meisten Schweden – unsere Kindheit verbracht haben. Bei Wind und Wetter, oft mit kalten, nassen Händen, aber glücklich.« Schwedens Landfläche ist zu 70 Prozent von Wald bedeckt, ein Spitzenwert im weltweiten Vergleich. Es gibt dort Elche, Füchse und Bären, und im Sommer viele Mücken. Sofia Lagerkvist, die in dem kleinen Ort Kvicksund groß geworden ist, sagt: »Ich habe den Wald nie als Gefahr gesehen, auch nicht als Kind. Für mich war die Stadt viel unübersichtlicher, bedrohlicher. Der schwedische Wald birgt keine großen Gefahren, außer Wespen. Und die wenigen Bären, die wir haben, sind hauptsächlich Vegetarier.« Das Gute am Wald sei auch, fährt Anna Lindgren fort, aufgewachsen in Ängby nahe Stockholm, dass er die Fantasie anrege. Ein paar zusammengelegte Äste ergeben ein Lager. Man brauche nicht viel als Kind, um dort Spaß zu haben. Auch im Winter, es sei wie ein Urtrieb. »Manchmal haben wir uns in den festen Schnee gesetzt, bis er sich wie Polster um den Körper schmiegte.«
In einem ihrer ersten Projekte ließen sie Ratten Löcher in Tapeten fressen und entwickelten ein Tapetenmuster daraus
Mit diesen Erinnerungen im Kopf zogen die beiden Frauen vor einigen Jahren los, um zu ergründen, was genau den Wald für Menschen so reizvoll macht und was man von ihm lernen kann. Sie suchten nach Plätzen, die zum Verweilen einluden, und lichteten sie mit einem 3-D-Scanner ab. Sie sprachen mit Förstern und Zoologen, inspizierten Lichtungen und sogar Bärenhöhlen, um zu verstehen, was Schutzräume haben müssen, um sich in ihnen geborgen zu fühlen. Vor allem Findlinge – große, einzelne Gesteinsbrocken, die einst von den Gletschern der Eiszeit im Land verstreut worden waren – weckten ihr Interesse. Sie werden in Schweden »Gigantenwurf« genannt. Die magische Wirkung, die von ihnen ausgeht, sei überall auf der Welt die gleiche: »Das Erste, was Menschen tun wollen, wenn sie einen sehen, ist: rauf! Die Besteigung als Akt der Besitzergreifung«, sagt Lagerkvist und zeigt ein Foto eines Haufens von moosüberwucherten Riesensteinen, die fast wie eine Sitzlandschaft anmuten. Von da war es nicht mehr weit zu den ersten Entwürfen ihrer Sofas.
Auf den zweiten Blick
Die Möbel und Objekte des Studios Front spielen mit Erwartungen und erzählen dabei viel über das gestörte Verhältnis zwischen Mensch und Natur.
Etwa zur gleichen Zeit, als das Projekt von Front Gestalt annahm, landete der deutsche Förster Peter Wohlleben mit Das geheime Leben der Bäume einen Weltbestseller. Darin wurde der Wald als lebender Organismus beschrieben, in dem es Freundschaft und Nächstenliebe gebe. Umweltschützer rechneten vor, dass der Klimawandel mit massiver Aufforstung gebremst werden könnte. Und in der Pandemie strömten die Menschen dann in Parks und Wälder, um etwas Pause von Lockdown und Homeoffice zu bekommen. Der Wald war plötzlich Freund und Hoffnungsträger in einer beängstigenden Welt.
»Natur kann man nicht eingrenzen. Je genauer man hinsieht, desto mehr weitet sich der Blick«, sagt Anna Lindgren. Sie untersuchten mit Paläontologen sogenannte Koprolithen, fossilierten Dinosaurier-Dung, in dem Flora und Fauna prähistorischer Zeiten konserviert ist. Irgendwann waren sie bei ihren Studien der Waldflora bei mikroskopischen Schalenamöben angelangt, den kleinsten Organismen, die sich selbst eine Hülle aus herumschwirrenden Spurenelementen bauen, um darin zu wohnen. Auch diese haben sie gescannt und das ihnen innewohnende Prinzip des Recyclings übernommen. Allerdings für ein anderes Projekt: Die 3-D-Aufnahmen dienten als Ausgangspunkt für eine Kollektion von amorphen Vasen aus Glasresten in Einzellerform.
Teppich »Walking on Clouds« für Moooi mit einer Collage aus Wolkenmotiven bedeutender Kunstwerke.
Sitzmöbel »Soft Wood« aus Polstern mit Holzmotiv, für Moroso.
Dokumentiert ist diese jahrelange Feldforschung auf den Wänden ihres Studios, wo Dutzende Fotos, Skizzen und Renderings hängen. Eine Sammlung an Formen, Strukturen und Farbwelten, die der Wald zu bieten hat. All das ist in Design by Nature eingeflossen. Im Vordergrund aber standen für Front grundsätzliche Fragen: Warum haben wir uns so vom Wald entfremdet?
Dem modernen Großstadtmenschen kommt die Epoche von Zivilisation und Industrialisierung unendlich lang vor. Doch in aller Welt erzählen Mythen von einer Geschichte, die lange im Schutz der Bäume stattfand, vom Wald als Allegorie auf Werden und Vergehen. Langkvist zufolge gibt es evolutionsbiologische Schätzungen, dass die Menschen bis zu 300 000 Jahre lang in der Wildnis lebten, meistens im Wald, bevor die ersten Dörfer und Städte entstanden. Diese urzeitliche Heimaterfahrung scheint den Menschen immer noch ins kollektive Bewusstsein eingeschrieben, sie glimmt bei jedem Waldspaziergang, bei jedem Campingurlaub auf wie ein wohliger Phantomschmerz. Hier war doch was?
Kunststoff-Tischleuchten »Rabbit Lamps« aus der Animal Family für Moooi.
Schlafende Vögel aus Porzellan aus der Serie »Resting Animals« für Vitra.
Für Sofia Lagerkvist hat diese Sehnsucht auch eine therapeutische Dimension: »Bei uns in Schweden geht man, wenn man schwere Zeiten durchmacht, lieber in den Wald als zum Psychologen oder in die Kirche, weil wir als waldreiches und säkulares Land so geprägt sind. Dieses Gefühl des Trosts und der Beruhigung wollten wir ins Wohnzimmer bringen.« Ein paar Jahre zuvor war ihnen das schon einmal gelungen, als sie Wohnskulpturen schlafender Tiere entwarfen, Katzen und Pinguine aus Porzellan, gepolsterte Bären, die ihren Besitzern signalisieren sollen: Jemand ist zu Hause, fühlt sich wohl hier. Die Verkaufszahlen der Tiere seien während der Pandemie gestiegen, sagt Anna Lindgren.
Tatsächlich ist die stresslindernde Wirkung der Natur wissenschaftlich belegt. Lagerkvist und Lindgren berufen sich auf Studien, die zeigen, dass Patientinnen und Patienten im Krankenhaus messbar schneller gesund werden und weniger Schmerzmittel benötigen, wenn sie einen idyllischen Ausblick haben. Selbst eine Fototapete mit Waldmotiv reiche schon. Patrizia Moroso, Chefin des gleichnamigen italienischen Möbelherstellers, war die Erste, die in diesen Gedanken das Potenzial für eine Kollektion sah. Mit Kvadrat wurde ein namhafter dänischer Textilhersteller eingebunden. Viel Entwicklungsarbeit ging in die Stoffe, die so gewebt und bearbeitet wurden, dass sie Haptik und Tiefe haben, ihre Farben je nach Blickrichtung und Lichteinfall changieren. Archaisch sehen diese Möbel aus, aber auch spektakulär in ihrer Raffiniertheit. Sie widersprechen dem nordischen Gestaltungsideal, das schnörkellosen Minimalismus und gemütliche Funktionalität fordert.
2003 haben Lagerkvist und Lindgren ihr Studio gegründet, damals noch zusammen mit zwei weiteren Partnerinnen. Seit 2013 sind sie zu zweit. Der Designansatz von Front ist kooperativ und unhierarchisch, und im Zweifel reizt sie das gestalterische Experiment mehr als schneller Erfolg. »Als wir anfingen, wirkte die skandinavische Designszene sehr konventionell auf uns«, sagt Sofia Lagerkvist. »Sie orientierte sich immer noch an Prinzipien des Bauhauses, alles sollte simpel und pur sein. Die postmodernen, innovativen Bewegungen aus Europa, vornehmlich aus den Niederlanden, hatten uns im Norden noch nicht erreicht.« In diese Lücke stieß das Studio Front. In einem ihrer ersten Projekte ließen sie Ratten Löcher in Tapeten fressen und entwickelten ein Tapetenmuster daraus. Sie entwarfen Lautsprecher – keine klobigen Kästen, sondern filigrane Glaskörper – und Lampen, die sich erhoben, wenn man sie anschaltete. Anfangs interessierte sich kaum einer in Schweden für ihre Arbeit, sagt Anna Lindgren, doch im Ausland wurde Front schnell gefeiert. Heute befinden sich ihre Arbeiten in den Sammlungen des Museum of Modern Art, des Victoria and Albert Museum (V&A) sowie im Centre Pompidou.
Das Frauenkollektiv forderte auch das herrschende Ideal des genialischen Frontmann-Gestalters heraus, das spätestens seit Walter Gropius das Industriedesign prägt. »Wir hatten einen guten Start, wir galten als neues, aufregendes Ding«, sagt Lagerkvist. »Aber natürlich gab es Vorbehalte.« Hersteller waren es gewohnt, mit Männern zu verhandeln, und ließen das die Designerinnen spüren. Journalisten fragten augenzwinkernd, wie sie denn mit technischen Problemen umgehen würden. Ob sie sich nicht ständig untereinander streiten, weil: vier Frauen? »Solche Fragen wurden Männern natürlich nicht gestellt«, sagt Lindgren.
Bis heute arbeitet Front bevorzugt mit familiengeführten Herstellern wie Moroso, Moooi und Vitra zusammen. »Wir haben nicht den Ehrgeiz, auf Teufel komm raus zu wachsen. Wir mögen kleine, herausfordernde Projekte«, sagt Langkvist. Ein schönes Beispiel ist ihre Ausstellung zum Thema Spiegel, die in diesem Sommer in der Pariser Design-Galerie Kreo zu sehen war: eine Werkschau als anthropologische Studie. Für die Platte eines Beistelltisches ließen Lagerkvist und Lindgren einen 3-D-Scan einer Pfütze machen und bildeten sie aus geschmolzenem Glas nach, eine Anspielung auf die reflektierenden Eigenschaften von Wasseroberflächen, den ersten Spiegeln der Menschheit. Oder ihre Interpretation jenes Spiegels aus poliertem, schwarzem Obsidian, den Archäologen in Anatolien ausgegraben haben, wo er vor 8000 Jahren gefertigt wurde. Kreationen wie diese sind weder besonders praktisch noch markttauglich, als Liebhaberstücke kosten sie ein Vermögen, aber wie immer bei Front erzählen sie Geschichten jenseits von Form und Funktion. Sie erschließen sich auch nicht immer auf den ersten Blick. 2010 entwarfen sie das Sofa »Soft Wood« für Moroso, das wie eine klobige, rustikale Holzbank aussieht, aber aus Polstern mit täuschend echtem Holzmaserungsmotiv besteht. »Ich erinnere mich an einen Besucher auf unserem Messestand, der ungläubig um das Sofa herumschlich«, erzählt Lagerkvist. »Bis er schließlich mit dem Fuß dagegentrat, wie man es bei toten Tieren macht, um zu sehen, ob sie noch leben.«
Wald, Holz, Amöben, Tiere. Sofia Lagerkvist und Anna Lindgren, beide Mütter zweier kleiner Kinder, sind manchmal selbst überrascht, wie oft sie bei ihren Projekten bei der Natur landen. Die beiden finden, dass wir uns viel zu weit von ihr entfernt haben. Wie sonst sei zu erklären, dass die Menschheit so zögerlich auf die Gefahren des Klimawandels und der Umweltzerstörung reagiere? Fronts Antwort darauf ist ein analytischer Blick auf das große Ganze – Neugier als Gestaltungsprinzip. Anna Lindgren zeigt auf das Fensterbrett mit ihren Waldmitbringseln. »Menschen sammeln Muscheln, Steine oder Äste, um sie zu Hause auf Tischen oder Fensterbrettern zu drapieren«, sagt sie. »Warum machen wir das?«