»Allzu weit werden wir heute nicht kommen«, sagt der Mann, dessen Bücher in England einen neuen Wander-Boom ausgelöst haben. Beim Sprint mit dem zwölfjährigen Sohn hat sich Robert Macfarlane einen Muskel gezerrt, deshalb humpelt er heute ein wenig. Im Hauptberuf Literaturprofessor in Cambridge, ist er in Großbritannien vor allem als gefeierter Naturschriftsteller bekannt. Die Landschaften, die er durchwandert, beschreibt Macfarlane mit einer präzisen und sinnlichen Sprache, die jeden Umweg zum Vergnügen macht. Wo andere nur einen Wald oder eine Wiese sehen, entdeckt er historische, kulturelle und naturgeschichtliche Bezüge. Seine Belesenheit fächert er dabei mit so viel Humor, Leidenschaft und geradezu kindlicher Abenteuerlust auf, dass man nach der Lektüre sofort losmarschieren und all das entdecken möchte, was man bei vorherigen Wanderungen übersehen hat. Für das Interview setzen wir uns am Wegesrand nahe Cambridge auf einen abgesägten Baumstamm und blicken über ein vom heißen Sommer versengtes Getreidefeld. Ehe es losgeht, sammelt Macfarlane den dort herumliegenden Plastikmüll ein und verstaut ihn im Rucksack.
SZ-Magazin Auf welcher Art von Wegen wandern Sie am liebsten?
Robert Macfarlane: Ich mag Wege, auf denen man nebeneinander gehen kann. In meinen Büchern bin ich oft mit Freunden unterwegs. Mit Schriftstellern, Historikern, Naturkundlern, Künstlern. Manchmal besteht die Begleitung auch aus Tieren. Heute sind wir ja schon C-Faltern, Stieglitzen, Ringeltauben und Bussarden begegnet.
In Ihrem Buch Karte der Wildnis kriechen Sie durch Hohlwege und federn über weichen Waldboden, um den Begriff der Wildnis auszuloten. Landmarks beschäftigt sich mit der Sprache, die Menschen für ihre Landschaften gefunden haben. In Alte Wege folgen Sie den historischen Trampelpfaden von Torfstechern und Hirten oder treten in die 5000 Jahre alten Fußstapfen eines Jägers. Sind alle Ihre Touren auch Denkbewegungen, die gleichzeitig auf einer zweiten, intellektuellen Ebene stattfinden?
Ja. Zum Beispiel sind Wanderungen für mich oft Zeitreisen. Hier sitzen wir gerade an einer 2000 Jahre alten Römerstraße. Vorhin, als wir am Wandlebury Ringwall entlangwanderten, sind wir durch die Eisenzeit gegangen, das Neolithikum liegt hier auch gleich um die Ecke. Alles direkt vor meiner Haustür. Der Baum, auf dem wir rasten, ist mit achtzig bis hundert Jahren vergleichsweise jung.
Sehen Sie, wenn Sie an einer Römerstraße sitzen, vor Ihrem inneren Auge Legionäre vorbeimarschieren?
Wenn man sich auf alten Wegen wie dieser Römerstraße bewegt, wird die Vergangenheit greifbar. Als wir auf sie eingebogen sind, haben Sie es bestimmt auch sofort gespürt: Der weiße Kalkstein, der noch aus der Römerzeit stammt, scheint durch den Pfad, und der Weg führt in beide Richtungen schnurgerade in die Ferne, so weit das Auge reicht. Wir wissen, dass hier Güter, Kulturen und Sprachen hin und her bewegt wurden und dass dieser Weg zu einem riesigen Netzwerk kaiserlicher Straßen gehörte. Die Konsequenzen dieses Austausches sind bis heute spürbar. In unserer Sprache, Architektur und sogar in unserer Gesetzgebung. In manchen Momenten steht die Vergangenheit ganz deutlich vor mir: Die müden Kohorten kommen nach Hause und rasten. Wenn ich daran denke, bekomme ich eine Gänsehaut.
Ihre Bücher bringen auch Routen ans Tageslicht, die vergessen und fast unsichtbar sind.
Neben dem modernen Straßennetz gibt es ja ein ganzes Labyrinth aus Wegen: Saumpfade, Pilgerpfade, Viehtrifte, Leichenwege, Deichwege, Handelspfade, Pässe, Chausseen, Heidewege, Rennsteige. Wenn man sie aufzählt, klingt es wie ein Gedicht. In Irland kann man bis heute die sogenannten Famine Roads erkennen. Sinnlose Wege, die einfach im Nichts enden. Man ließ sie von hungernden Menschen erbauen, die Lebensmittelmarken nur gegen solch eine demütigende Gegenleistung bekommen sollten.
Sie schreiben, dass Pfade normalerweise »aus einvernehmlichem Tun« entstehen. Sie bezeichnen sie als »Gewohnheiten der Landschaft«.
Ohne gemeinschaftliche Instandhaltung und Nutzung verschwinden Wege einfach. Aber solange sie benutzt werden, besteht ihre Funktion darin, Orte und Menschen zu verbinden. Und ich versuche, diesen Verbindungen nachzuspüren. Wenn man zu Fuß auf alten Wegen unterwegs ist, kann man das fast körperlich nachempfinden. Auf der Hebrideninsel Harris wanderte ich viele Tage durch die Einsamkeit des Moors. Auf Wegen, die die Torfstecher einst angelegt hatten. Ich wollte unbedingt in einer der alten Steinhütten schlafen, von denen ich gelesen hatte. Man findet sie nur sehr schwer, weil sie so gut getarnt sind. In der Nacht kam ein Hirsch und schnaubte in die Türöffnung. Und plötzlich waren mir die Sozialgeschichte und Bauweise völlig egal, und es ging nur noch um den Konflikt zwischen mir und dem eigentlichen Bewohner der Hütte. Auch das gehört zum Wandern: das Unerwartete. Landschaften überraschen dich mit großer Verlässlichkeit.
Muss man viel Zeit in Bibliotheken verbringen, um beim Wandern all die Spuren und Verweise zu erkennen, die Sie beschreiben?
Ich wandere gerne mit Menschen, die die Gegend gut kennen. Dann brauche ich keine große Vorbereitung, ich muss nur zuhören und Fragen stellen. Wenn ich allerdings allein unterwegs bin, möchte ich vorher wissen, wie die Landschaft entstanden ist. Geologie, Kultur- und Naturgeschichte. Gänzlich unvorbereitet durch eine Gegend zu marschieren, finde ich fast ein bisschen verantwortungslos.
»Wer die Welt nicht hört, schmeckt und berührt, verliert die Bodenhaftung«
Sie beschäftigen sich in Ihren Büchern oft mit anderen Texten über das Wandern – Lieder, Romanzitate, Reisebeschreibungen und Landkarten. Oder Sie setzen sich über mehrere Seiten hinweg mit einem Gedicht auseinander, das an einem bestimmten Punkt entlang Ihrer Wanderroute spielt.
Ich lasse in meinen Büchern immer wieder Menschen zu Wort kommen, die vor mir durch die Landschaften gewandert sind. Die schottische Bergsteigerin und Schriftstellerin Nan Shepherd beispielsweise, den höchst exzentrischen und viel zu jung verstorbenen Roger Deakin, oder John Muir, der vieles in einer Person war: Hirte, Bergsteiger, Naturkundler, Aktivist und Begründer der amerikanischen Nationalparks. Mein Arbeitszimmer quillt über von Materialien. Man kommt kaum noch durch, so vergletschert ist der Raum, mit langen Endmoränen aus Papier.
Haben Sie eine Ahnung, wie weit Sie in den vergangenen Jahren gegangen sind?
Für mein Buch Alte Wege habe ich wohl zwischen 1600 und 1900 Kilometer zurückgelegt. Das ist nicht wenig, aber auch nicht besonders viel. Man schätzt, dass der Romantiker William Wordsworth in seinem 80-jährigen Leben 240 000 Kilometer gewandert ist. Wordsworth pflegte 20 Kilometer zu spazieren, um bei seinem Freund Samuel Coleridge eine Tasse Tee zu trinken. Wenn der nicht zu Hause war, kehrte Wordsworth einfach wieder um.
Kann man sagen, dass Wandern für Sie eine Erkenntnismethode ist, eine bestimmte Art, die Welt wahrzunehmen?
Mich beschäftigt ganz banal das Verhältnis von Landschaft und Mensch. Wir sind von den Orten geprägt, die wir bewohnen, und gleichzeitig verändern wir diese. Heute sind diese Veränderungen so massiv, dass wir zu Recht von einem neuen Zeitalter sprechen, dem Anthropozän. Ich schreibe darüber, wie ortsabhängig unser Denken ist und wie sensibel es auf Bewegungen reagiert. Das Wetter, die Luft, der Sand beeinflussen uns. Besonders aufgefallen ist mir das einmal beim Wattwandern. Durch die Spiegelungen des Wassers, den feuchten, weichen Untergrund und die konturlose Weite der Landschaft kam mein Denken komplett durcheinander. Für Nan Shepherd sind das Wandern und das Lernen untrennbar miteinander verbunden. Damit war sie ganz nah beim französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty, der schrieb, wie wichtig die sinnliche Wahrnehmung für unser Verständnis der Welt ist: Wer die Welt nicht hört, schmeckt und berührt, verliert buchstäblich die Bodenhaftung. Aber heute verbringen wir so viel Zeit in geschlossenen Räumen und vor Bildschirmen, dass die Landschaft immer mehr zum hübschen Hintergrund wird. Die Umwelt wird als Problem gesehen, das es zu lösen gilt. Das Wandern erinnert uns daran, wie stark wir Menschen in der Landschaft verwurzelt sind.
Wandern ist bei Ihnen keine Schönwetter-Aktivität. Sie beschreiben oft, wie Sie bei Regen und Schnee unterwegs sind oder in Eiseskälte draußen übernachten.
Wenn man es psychoanalytisch angehen will, hat es vielleicht damit zu tun, dass ich aus einer protestantisch geprägten Kultur stamme. Erst das Leiden, dann die Belohnung. Du steigst unter schwierigen Bedingungen auf einen Berg und wachst am nächsten Morgen mit dem Sonnenaufgang auf. Ich achte aber darauf, dass die Schilderung extremer Erlebnisse nicht angeberisch wirkt. Es gibt in der britischen Literatur die Tradition, sich über seine eigenen Schwächen lustig zu machen. Drei Mann in einem Boot von Jerome K. Jerome oder Ein Spaziergang im Hindukusch von Eric Newby sind Paradebeispiele dafür. Wandern ist eben nicht nur etwas, was zum Philosophieren anregt, sondern es ist auch albern, langweilig oder einfach nur anstrengend.
Hat Wandern etwas Heilsames? In Ihren Büchern treten mitunter Menschen auf, die ihre Depressionen durch exzessives Wandern in den Griff bekamen.
Ich denke schon lange darüber nach, ein ganzes Buch übers Wandern und psychische Krankheiten zu schreiben. Diese Art der Eigentherapie kann sehr exzessiv sein. Bei Männern ist es oft die unbequeme Familie, vor der sie davonlaufen. Der Dichter Edward Thomas und der Everest-Pionier George Mallory sind Beispiele dafür, Letzterer kam auf seinem Marsch schließlich zu Tode. Wenn du Glück hast, kannst du beim Wandern tatsächlich deinen Dämonen entkommen. Eine Romantisierung und Verallgemeinerung des Wanderns möchte ich aber vermeiden. Wandern heilt, Wandern macht glücklich, Wandern bringt dich zum Nachdenken – ja, das gibt es alles, aber Menschen sind auch im Zorn oder voller Verzweiflung marschiert. Es gibt ja diese oft übersehene Schattengeschichte des Wanderns: Landstreicher, Arbeitslose, Vagabunden.
Werden Sie unleidig, wenn Sie nicht genug zu Fuß unterwegs sind?
Und ob. Zum Glück hilft Joggen, wenn ich nicht genug Zeit zum Wandern habe.
Was darf nicht im Rucksack fehlen?
Abgesehen von den Dingen, die jeder mitnimmt? Auf lange Wanderungen nehme ich gerne rote Chilischoten mit. Besonders wichtig sind sie im Winter. Wenn ich schlaff und müde werde, esse ich eine – dann brennt der Bauch, und die Beine und das Hirn funktionieren wieder.