Ist die Zeitungsindustrie für die Zehnerjahre unseres Jahrhunderts, was die Stahlindustrie für die Achtziger des letzten war? Und wenn das so ist: Wann sehen wir Fackelzüge von Journalisten und Druckern? Wo bleibt die Solidarität der Bevölkerung, für die wir das alles tun? Stirbt eine ganze Branche – und ausgerechnet die, die mit Nachrichten handeln, tun sich schwer, die Menschen zu mobilisieren? Im Jahr 2043 wird die letzte Zeitung gedruckt, das sagte Philip Meyer voraus: in seinem Buch The Vanishing Newspaper, das schon 2004 erschien – bevor Facebook und Twitter die Art und Weise revolutionierten, wie Menschen kommunizieren, und den Begriff der Nachricht neu definierten; bevor Tim O’Reilly den Begriff Web 2.0 erfand und die Chiffre schuf für die ganze Partizipations-Euphorie und den stolzen Satz von der »Weisheit der Vielen«; und bevor die Finanzkrise die Zeitungshäuser und Magazinverlage in die zweite existenzielle Krise innerhalb eines Jahrzehnts zwang. Haben die Zeitungen ihr Überleben hinter sich?
2043, das klingt heute schon verwegen optimistisch. Wir leben auf der Schwelle eines Kulturbruchs, und das Prophetische, das in dieser Formulierung mitschwingt, muss einem nicht gefallen. Und tatsächlich gibt es Menschen, die sagen: Das wollen wir nicht, das gefällt uns nicht – was ein wenig so ist, wie wenn man beim Ausbruch eines Vulkans sagt: Das will ich nicht, das gefällt mir nicht. Es geht aber nicht darum, ob sich Zeitungen und Magazine im Angesicht ihres Endes verändern müssen – es geht nur darum, wie sie sich verändern und wie schnell sie das tun.
Zurzeit herrscht allerdings eine große Ratlosigkeit. Manche Journalisten verteidigen Ehre und Ethos ihres Berufes. Sie behandeln Papier wie einen Fetisch und sagen: Nur was gedruckt ist, kann Journalismus oder Wahrheit oder Kritik sein. Manche Journalisten werfen sich mit Verve ins Internet und predigen und preisen die Chance und die Schönheit dieser neuen digitalen Welt. Die meisten haben nur Angst um ihren Job. Und aus den USA, oft ein paar Jahre voraus, kommen die Nachrichten im gefühlten Trommelfeuer – eine ruhmreiche und preisgekrönte Zeitung nach der anderen, vor 180 Jahren gegründet, wird nun eingestellt oder erscheint nur noch online. Und es ist das immer gleiche Muster: Entlassungen, Sparrunden, geschlossene Auslandsbüros – erst verschwindet die Qualität, dann die Zeitung.
Drei Indikatoren zeigen, wie dramatisch die Situation ist, die einen medialen und einen demografischen Wandel beschreibt. Da ist zum einen die Auflage, weil sie die klassische Art ist, wie Zeitungen ihren Erfolg messen. In den letzten zehn Jahren haben die deutschen Tageszeitungen jeden fünften Leser verloren, die Jahresauflage stürzte von 30 Millionen auf unter 24 Millionen ab, die Auflage der Vogue sank im letzten Jahr um 11,4, die der Brigitte um 7,2 Prozent. Spiegel und Stern scheinen da im Vergleich noch relativ stabil, und die überregionalen Tageszeitungen trotzen bislang sogar dem Trend und halten ihre Auflage. Ist das alles nur durch das Internet zu erklären? Einer wie der Autor Jeff Jarvis behauptet sogar, dass die Zeitungen und Magazine selbst Schuld tragen, weil sie zu lange zu borniert waren, um zu sehen, dass sie am Leser vorbeiarbeiteten. Das Auflagenproblem, sagt er, ist auch ein inhaltliches Problem.
Der zweite Indikator ist der Anzeigenerlös, weil es die eigentliche Art ist, wie Zeitungen ihr Geld verdienen. Auch hier gibt es dramatische Rückgänge, die internationalen Tageszeitungen verloren von 2000 bis 2007 mehr als zwei Milliarden Euro an Einnahmen. Der dritte Faktor schließlich ist das Alter der Leser, weil das verdeutlicht, wie dauerhaft das veränderte Medienverhalten sein wird. Der Durchschnittsleser einer Tageszeitung war 2008 knapp über 50, nur vier Prozent der unter 20-Jährigen lesen eine überregionale Tageszeitung. Sind die also alle im Internet? Das Problem ist: Das Print-Geschäftsmodell bricht zusammen – aber es ist immer noch nicht klar, wie man mit Nachrichten im Internet Geld verdienen kann.
In der Zwischenzeit leidet der Journalismus, gerade in wirtschaftlich und politisch aufwühlenden Jahren. Was also ist die Lösung? Zeitungsmuseen, so wie heute schon Museen aus den Stahlruinen entstehen? Oder doch philanthropische Zeitungsstiftungen, wie das in den USA diskutiert wird? Das wäre dann die Abkoppelung vom heiligen Prinzip der Auflage.
Georg Diez, 39, ist Autor des »Süddeutsche Zeitung Magazins«.
Illustration: Christoph Niemann