C wie Christian Science Monitor

Was passiert, wenn eine bedeutende Tageszeitung nur noch im Internet erscheint? Ein Gespräch mit »CSM«-Redaktionsleiter John Yemma.

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DAS INTERVIEW:

SZ-Magazin: Ihre Zeitung erscheint seit Ende März unter der Woche nicht mehr gedruckt. Warum?
John Yemma: Wir haben im vergangenen Jahr 19 Millionen Dollar Verlust geschrieben. Und die »Church of Christ, Scientist«, die in unserer hundertjährigen Geschichte unsere Defizite immer beglichen hat – übrigens ohne redaktionell Einfluss zu nehmen –, will ihre Zuschüsse jetzt langsam herunterfahren. Es geht Ihnen also wie vielen Tageszeitungen: Sie müssen massiv sparen. Ja, und uns als kleine nationale Zeitung kostet der Vertrieb besonders viel. Unsere 50 000 Abonnenten leben in den USA verstreut. Wir haben ihnen den Christian Science Monitor mit der Post geschickt, die sehr teuer und wenig zuverlässig ist. Oft kam die Zeitung mit einem Tag Verspätung bei den Lesern an.

Gibt es einen journalistischen Gewinn durch die Umstellung? Einen gewaltigen. Der Onlinejournalismus erlaubt uns nicht nur, aktueller zu sein, sondern auch in den Formen vielfältiger. Im besten Sinne ist Onlinejournalismus etwas Organisches, dem Leser etwas hinzufügen, was Journalisten wiederum weiterverarbeiten.

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Tatsächlich aber bleibt Onlinejournalismus oft oberflächlich. Weil Printjournalisten oft wenig mit dem Internet anzufangen wissen, ähnlich wie Radiomoderatoren mit dem frühen Fernsehen kaum umzugehen wussten. Die standen starr vor der Kamera, redeten. Mimik, Gestik, Bewegung – das, was das Fernsehen ausmacht, beachteten sie nicht.

Der Christian Science Monitor ist bekannt für seine Hintergrundberichterstattung. Der deutsche Kanzler Helmut Schmidt hat die Zeitung häufig zitiert. Finden ausführliche Analysen noch Platz? Meistens in der Sonntagsausgabe, die wir zum Magazin ausgebaut haben. Obwohl Onlineartikel theoretisch unendlich lang sein können, sollten sie eher kürzer sein. Die Leser springen im Internet viel hin und her.

Ihre Leser sind im Schnitt 64 Jahre alt. Fürchten Sie nicht, viele davon nun zu verlieren? 90 Prozent der Tageszeitungsabonnenten beziehen jetzt unser Sonntagsmagazin, was selbst optimistische Schätzungen übertraf. Außerdem haben wir schon 6000 neue Abonnements verkauft. Unser Plan ist, ein paar Zehntausend neue Leser übers Internet für die Sonntagsausgabe zu gewinnen.

Der Onlineauftritt ist bei Ihnen nur ein Köder für die gedruckte Ausgabe? Nein, wir sprechen von »Web first«-Strategie. Die meisten unserer kreativen Überlegungen gelten der Onlineberichterstattung. Morgens um sechs bekommen alle Redakteure eine Mail mit den Klickzahlen des Vortages. In unserer Zehn-Uhr-Konferenz sprechen wir dann darüber, warum das eine gut lief und das andere nicht: Lag es an der Überschrift oder am Zeitpunkt der Veröffentlichung? Hätte man sie lieber etwas später ins Netz stellen sollen – dafür mit einer gründlicheren Analyse?

Wie kommen Ihre Mitarbeiter mit dem neuen Medium zurecht? Ein paar, die sich nicht umstellen wollten, haben sich pensionieren lassen. Der Rest ist voll bei der Sache. Ich jedenfalls bin ganz begeistert von der Energie, die in unserer Onlineberichterstattung steckt, und von der Qualität unseres Sonntagsmagazins.

In den vergangenen 20 Jahren ist Ihre Auflage um drei Viertel geschrumpft. Die »Web first«-Strategie, die Sie als avantgardistisch verkaufen, scheint Ihre letzte Chance – rein defensiv. Die Strategien der anderen Zeitungen sind doch viel defensiver. Sie entlassen Redakteure, bezahlen den Rest unter Tarif. Unsere Kombination aus Online- und Wochenendzeitung ist vorwärtsgewandt, einfach einleuchtend: Die Leute haben unter der Woche wenig Zeit zum Lesen, so ähnlich haben die meisten die Kündigung ihres Abonnements uns gegenüber begründet. Am Wochenende genießen sie aber noch immer die ausführliche Lektüre. Auch die New York Times macht zurzeit aggressiv Werbung mit einem Wochenendabonnement.

Welche Zukunft hat das Medium Tageszeitung Ihrer Meinung nach? Keine große. In den mittelgroßen Städten der USA werden die Zeitungen bereits in ein, zwei Jahren ins Internet abgewandert sein – außer der Sonntagsausgabe und womöglich einem Boulevardblatt, das an der U-Bahn ausliegt. Printjournalismus macht einfach keinen Sinn: Da werden Bäume gefällt, fässerweise Farbe durchs Land gefahren, Zeitungen gedruckt, die tags darauf im Altpapier landen.

John Yemma, 56, leitet seit 2008 den »Christian Science Monitor«. Zuvor hat er 20 Jahre als politischer Journalist für den »Boston Globe« gearbeitet.

Illustration: Christoph Niemann