»Sollen wir, sollen wir nicht?« fragt mein Kollege Georg. Es ist Faschingsdienstag, wir sind die Letzten im Büro und ich entscheide: Wir sollen. Gemeinsam verlassen wir das Büro und steuern eine Bar an, in der Freunde sitzen, vielleicht schon tanzen. Es ist kurz nach acht, da fällt Georg ein, dass die Anderen schon viel getrunken haben, wir hingegen gar nichts, und dass der Stimmungsschock sicher kleiner wäre, wenn wir uns ein Wegbier gönnten. Ich nicke, logisch, also ein Zwischenstopp im Hauptbahnhof, Untergeschoss, gleich öffnen bitte, danke. Wir stoßen an, trinken, da stehen wir wieder auf der Rolltreppe.
Der restliche Weg ist kürzer als 0,33 Liter, deshalb geht’s schluckweise über den Viktualienmarkt, das Bier in der rechten Hand. Im Gehen trinken, schon oft gemacht. Machen viele. Wirkt lässig und sieht immer nach Auftakt aus. Das Wegbier signalisiert: Da kommt noch was, und mit jedem Flasche-an-den-Mund-setzen beweisen wir, dass wir bereit sind uns dem hinzugeben. Kein Vorglühen ist so verheißungsvoll wie das mit der handwarmen Flasche. Ich trinke, werde aber das Gefühl nicht los, etwas sei falsch. Als klebte Privates an mir, das nicht auf die Straße gehört, Lockenwickler oder Hausschuhe. Da kapiere ich, es ist das Bier.
Ich halte es jetzt mit links, rechts eine Kippe, stehe neben dem Kollegen hinter einer Bude und schaue den Straßenkehrern zu, die den Faschingsmüll zusammenschieben, lauter Wegbierflaschen. Mir fällt ein, wie ich in Berlin in der U8 – oder war es die U1? – saß, und alle um mich herum tranken, als wäre der Waggon Teil einer Veranstaltung, auf die wir gemeinsam zusteuern. Als bekäme jeder, der will, vorne beim Fahrer ein Fußpils. Das Wegbier gehöre zum Berliner Lebensgefühl, hat der Tourismuschef Burkhard Kieker behauptet. Ich bin in Berlin geboren, ist doch ein Anfang, also kann ich jetzt mal entspannen.
Trinke ich nicht auch Kaffee im Gehen, sogar auf dem Fahrrad? Aber so ein Pappbecher beweist, dass ich in den Tag starte, erwartet werde und zwar dringend. Dass ich fit und fokussiert sein will, nicht fertig. Ich stehe hier und gebe langsam öffentlich die Kontrolle ab, über mich, über diesen Abend und denke zum ersten Mal, das muss verzweifelt wirken. Als müsste ich wie früher vorab trinken, um Drinks zu sparen. Als könnte ich nicht warten, bis ich dort bin, wo es Stühle und Gläser gibt. Meistens weiß ich ja, wo ich hinwill. Meine Freunde und ich reservieren sogar Tische. Das ist neu.
Alt ist das Versprechen dieser Flasche in meiner Hand. Vielleicht lande ich auf einer Dachterrasse, auf der ich noch nie war, lerne Menschen kennen, mit denen ich in dreißig Jahren auf diese eine, unglaubliche Nacht zurückblicke. Möglich ist es, aber wie wahrscheinlich? Kaum, denke ich müde, sind nicht unzählige Nächte unspektakulär in den Morgen übergegangen? Ich schaue Georg an, ein Zweifler eigentlich, der immer im rechten Moment die Augenbrauen hochzieht und fragt: really? Aber jetzt zweifelt er gar nicht. Er hat seine Flasche geleert, wie man sie leeren sollte, nämlich zügig. Komm, wir gehen weiter, sagt er, und ich lasse mein Bier stehen, verzichte aufs Versprechen, weil ich den Kater deutlicher vor Augen als die neuen Freunde, die ich womöglich kennenlerne.
Wehmütig verlasse ich den Viktualienmarkt mit freien Händen, und für die nächsten dreihundert Schritte denke ich: Im Staatssinne ist die Ordnung wiederhergestellt. So ohne Flasche könnte ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren und bin als guter, weil wegbierfreier Bürger einsatzbereit, sollte vor mir eine alte Dame stürzen. Schwachsinniger Trost, habe ich nicht gerade einen Hoffnungsträger verloren? Wer nicht träumt, hört auf zu wachsen, und beim Trinken im Gehen habe ich immer gut geträumt. So, wie man eben erst beim Reden gut denken kann, das hat Heinrich von Kleist herausgefunden, jetzt sind wir da. Vor unserer Bar steht ein Seemann. Rein kommt nur, wer einen trinkt, sagt er und schenkt uns grünen Pfefferminzlikör ein. Wir kippen.
Foto: christophe papke / photocase.de