Bis vor ungefähr zehn Jahren hatte ich Konfetti in der Blutbahn. Diese Umschreibung ist nicht von mir, sie stammt aus einem Hit des Mainzer Fastnachts-Musikers Oliver Mager, aber ich finde, dass sie gut veranschaulicht, wie ich mich kurz vor und während der Fastnachtstage fühlte. (Zur Erklärung: Fastnacht ist etwas sehr ähnliches wie Karneval, aber etwas anderes als Fasching). Ich bin in Mainz aufgewachsen, als Meenzer Meedsche, und da ging es gar nicht anders, als mit der Fastnacht, der Fassenacht, aufzuwachsen.
Ein bisschen hat mich die Fastnacht also zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Umso schmerzhafter ist die Erkenntnis der vergangenen Jahre: Die Fastnacht und ich haben uns auseinandergelebt. Dafür können wir beide nichts, schuld sind, wie oft, die äußeren Umstände, aber dazu später mehr.
Vor unserer Krise führten wir lange Zeit eine schöne Beziehung, sie kam ein Mal im Jahr für etwa sechs Tage zu ihrem Höhepunkt, das sah dann so aus: Am Altweiber-Donnerstag trug mein Vater im Idealfall bereits eine alte Krawatte, wenn er mich morgens weckte, damit ich diese noch im Halbschlaf mit meiner Bastelschere abschneiden konnte. Auch die Lehrer an unserer Schule ließen sich an jenem Donnerstag von ihren Schülerinnen den Schlips stutzen; wir fanden das lustig, es gehörte dazu, die Symbolhaftigkeit dessen wird mir eigentlich erst jetzt vor der aktuellen Debatte richtig bewusst.
Tags drauf, also am Fastnachtsfreitag, wurde in der Schule gefeiert, man durfte natürlich verkleidet kommen, die älteren Schüler tranken heimlich Kleiner Feigling, und spätestens nach der zweiten Stunde und einer Polonaise durch das ganze Schulhaus war der Unterricht vorbei. Am Abend schauten wir mit der Familie oder Freunden die Fernsehsitzung »Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht«, man kannte ja viele der Menschen auf der Bühne dort, samstags ging es zum Jugendmaskenzug (als Schülerin bin ich sogar ein paar Mal mitgelaufen, einmal als Schlumpf-, einmal als Paradiesvogelkolonie), als Jugendliche dann abends zum Prinzengardenball. Sonntag »Tanz auf der Lu« und Motivwagen anschauen, Montag Rosenmontagszug, Dienstag Umzug in unserem Stadtteil mit abschließendem Beute-Teilen.
Am Aschermittwoch war alles verloren, da gab es morgens in der Schule einen Gottesdienst, bei dem der Pater uns mit dem Daumen ein Aschekreuz auf die Stirn malte. Die Gravität dieses Aktes gab für mich den Rahmen der Fastnacht vor: Das war ein überaus ernstzunehmendes Geschehen. Mit der entsprechenden Gewissenhaftigkeit wurden Jahr für Jahr die Kostüme geplant und realisiert, meine Mutter spielte eine tragende Rolle als Teilzeitschneiderin (Prinzessin, Pippi Langstrumpf, Ronja Räubertochter, Cowboy, Löwe, Pfau, Inderin, Indianer ...).
Ich habe Freundinnen, die in den Gardeballetts tanzten, und Freunde, die Büttenreden hielten. Das jeweilige Motto der Kampagne (2018: »So wie der Mond die Nacht erhellt, strahlt Mainzer Fastnacht in die Welt.«) war Gegenstand erster politischer Diskussionen auf dem Schulhof. Und natürlich gab es auch viele erste Räusche, viele erste Küsse und viele erste Herzdramen in dieser Zeit.
Als ich zum Studieren wegzog in eine weniger närrische Gegend, fuhr ich zur Fastnacht jedes Jahr nach Hause; erst in der Ferne wurde mir bewusst, wie identitätsstiftend die Fastnacht als junger Mensch für mich war. Ich verteidigte die Witze aus »Mainz bleibt Mainz« vor meinen Kommilitonen und erklärte immer wieder: »Nein, es geht an diesen Tagen nicht nur ums Saufen und Aufreißen, da steckt Geschichtsverarbeitung hinter, das ist Kultur und Lebensstil! Aber das kann man nicht verstehen, wenn man damit nicht groß geworden ist.«
Mittlerweile ist mir klar: Man kann es auch nur dann so richtig verstehen, wenn man vor Ort lebt. Wenn man ab dem 11.11. ständig umfastnachtet wird und sich intensiv und umfassend mit der Planung der Fünften Jahreszeit beschäftigt. Sonst geht dieses Gefühl verloren. Konfetti-Aderlass.
Nach dem Studium zog ich erst nach Hamburg und später nach München, an noch weniger närrische Orte, und irgendwo dazwischen ist mir das Fastnachtsgefühl abhanden gekommen. Klar, es gibt in Hamburg am Fastnachtssamstag Partys, für die man sich verkleidet und auf denen Andrea Berg, Nena und DJ Ötzi gespielt werden. Und klar, es gibt auch Partys und Bälle in München und diesen Faschingsdienstag, der sogar ein halber Feiertag ist. Aber mit der Fastnacht, wie ich sie kenne, hat das wenig zu tun. Mehr mit Après Ski und Halloween, sorry, dafür kann ich mich auch nur schwer erwärmen. Dann lieber nicht.
Es ist besser zu ertragen, wenn die Fastnacht für mich ganz ausfällt, als wenn sie zu einem Schatten ihrer selbst wird. »Helau« kann man nicht halbherzig oder leise sagen, das muss laut und aus voller Überzeugung herausgeschrieben werden. Als ich vor ein paar Jahren mal nur für den Fastnachtssamstag nach Mainz reiste und panisch noch in die Kostümabteilung im Kaufhof rannte, um mir irgendeine Verkleidung zu organisieren, musste ich schon schlucken: So wollte ich nie werden. So ein Fastnachts-Tourist, der sich ein Fertigkostüm von der Stange kauft und abhaut, bevor die Aschermittwochs-Melancholie über die Stadt rollt. Genau die haben wir als echte Fastnachter immer ausgelacht.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als über die vergangenen Jahre eine leicht zynische Distanz zur Fastnachtaufzubauen, ich tue so, als fände ich das Ganze albern und sinnlos, sage Sachen wie: Da geht es doch nur noch ums Saufen und Aufreißen. Ich denke, es ist besser so. Dafür ist die Sache zu ernst. Helau!