Von Slobodan Praljak hörte ich 1993 zum ersten Mal – ich war 13 und begriff erst allmählich, was in der Region geschah, aus der meine Eltern vor über 20 Jahren nach Deutschland gekommen waren. Sein Bild flimmerte damals über den Fernseher. Auf einem Panzer stehend und mit der Kalaschnikow in der Hand schwor er Truppen auf ein Gefecht ein.
Zeitungen und Magazine zeigten ihn später bei Premieren in der kroatischen Hauptstadt, in Tarnuniform und mit Waffe im Halfter. Bevor der Kroate zum General ernannt wurde, führte er lange Regie am Theater und beim Film. Er liebte Inszenierungen. Dass er mit 72 einen Gerichtssaal in Den Haag als Bühne für seinen Abschied aus dem Leben wählte, erschien mir fast schon konsequent. Am 29. November schluckte er Zyankali, nachdem das UN-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien in zweiter Instanz seine 20-jährige Haftstrafe wegen Kriegsverbrechen in Bosnien bestätigt hatte.
In Kroatien stilisieren ihn Menschen seither zum Märtyrer. Der Premierminister nannte das Urteil eine »tiefe moralische Ungerechtigkeit gegenüber dem kroatischen Volk«. Und die führende Tageszeitung des Landes wollte wissen, was für eine Logik dahinterstecke, einen, dessen Heimat angegriffen wurde, als Aggressor einzustufen und ihn so in den Selbstmord zu treiben.
Praljak selbst sah es wohl ähnlich. Er hielt sich für einen Patrioten, der angeblich tat, was er glaubte, zur Verteidigung Kroatiens tun zu müssen. Aber er wollte, dass seine Soldaten Gefangene gut behandelten, erklärte er vor Gericht. Gezielte Vertreibungen habe er niemals angeordnet, Massaker wie jenes in dem Dorf Stupni Dol schon gar nicht. Eine ihm unterstellte Einheit hatte dort im Oktober 1993 mindestens 37 Männer, Frauen und Kinder grausam ermordet.
Eine direkte Order konnte das UN-Tribunal Slobodan Praljak nicht nachweisen, genau wie in anderen Fällen. Doch wer die Losung ausgibt, »keine Gnade gegenüber irgendjemandem« walten zu lassen, nimmt solche Verbrechen in Kauf, argumentierte dasselbe Gericht, das ein paar Tage vorher den serbischen General Ratko Mladic aus ähnlichen Gründen zu lebenslanger Haft verurteilte – eine Entscheidung, die in Kroatien jubelnd aufgenommen wurde.
Serbische Truppen haben in Bosnien-Herzegowina weit mehr und noch viel schlimmere Verbrechen begangen als kroatische, stand in der Presse. Dieses Argument habe ich schon unzählige Male gelesen und gehört. Ich weiß nicht, was dieses Aufrechnen an der individuellen Verantwortung und Schuld von Slobodan Praljak oder irgendeinem anderen kroatischen Kriegsverbrecher ändern soll. Was ich dagegen weiß: Jetzt zieht und zerrt es wieder in mir.
Es ist das gleiche Ziehen und Zerren, das ich früher spürte, wenn ich am Ende der großen Ferien auf der Rückbank des Mercedes saß, vor mir meine Eltern mit tränenüberströmten Gesichtern, weil sie ihre Heimat fast ein ganzes Jahr nicht sehen würden, hinter mir die verblassende Küstenstadt, die für mich mehr war als das Reiseziel jedes Sommers: Großeltern, die schon auf dem Schotterweg warteten, wenn wir mit dem Auto gerade erst um die letzte Kurve vor ihrem Hof bogen; Onkel und Tanten, die uns Kinder zur Begrüßung in die Arme schlossen, als wollten sie uns nie wieder gehen lassen; die erste große Liebe; Freunde, mit denen ich ab dem Moment unserer Ankunft jeden Tag verbrachte, bis es zurück nach Deutschland ging und auch mir Tränen über die Wangen liefen.
Dass in meinem Verhältnis zu Kroatien Projektionskitsch mitschwang, ahnte ich vor den ersten Kriegsverbrecherprozessen. Nationalisten gab es dort schon immer. Aber ob es sich dabei um Politiker und ehemalige Militärs handelt oder um Menschen, mit denen man tagsüber am Strand Pommes und nachts auf einer Mauer sitzend Zukunftsträume geteilt hat, macht einen Unterschied. Nicht wenige, die mir wichtig waren und es bis heute sind, verehrten Täter offen wie Helden und akzeptierten keine andere Meinung.
Als ich im vergangenen Sommer aus Kroatien zurück nach Deutschland fuhr und die Stadt und die Küste im Hintergrund verblassten, spürte ich zum ersten Mal so etwas wie Leere. Es liegt nicht nur an den Reaktionen und Diskussionen über das, was zwischen 1991 und 1995 passiert ist. Die Freiheit, die man in Kroatien vor der Abspaltung von Jugoslawien herbeisehnte, gilt dort inzwischen als Bedrohung.
Angesichts von Armut und der vierthöchsten Arbeitslosigkeit in der EU sehen große Teile der Bevölkerung keine Zukunftsperspektive, also wenden sie sich der Vergangenheit zu, die von Konservativen und Rechten schöngefärbt wird: Traditionen pflegen, zueinanderzustehen, Andersdenkende, Homosexuelle und Fremde auf Abstand halten, dann kann uns keiner was. In Deutschland, das ich mag und in dem ich gerne lebe, ist mir als Ausländerin solches Denken früh begegnet. Seit es sich in Kroatien immer weiter ausbreitet, frage ich mich, wie viel mich wirklich mit der Heimat meiner Eltern verbindet, die auf eigentümliche Art auch meine war und ist.
Dass man als Gastarbeiterkind zwischen zwei Stühlen sitzt, diese Vorstellung fand ich immer seltsam. Für mich existierte nur der eine, den ich mir selbst zusammengebaut hatte aus dem, was ich an kroatischen und deutschen Einflüssen in mir trug – ein wackliges Konstrukt, aber eines, das all die Jahre hielt. Nachdem ich die vielen Artikel über Slobodan Praljak in kroatischen Zeitungen gelesen hatte und sah, was Bekannte und Verwandte unter anderem auf Facebook posteten, merkte ich, dass dieses ohnehin nicht besonders stabile Gebilde stärker schwankte als sonst.
Und wenn schon, redete ich mir ein. Aber es ist hart, auch weil es viele Jahre und viel Mühe gekostet hat, aus zwei sehr unterschiedlichen Welten eine, nämlich meine Identität zu bilden. Aus den Nachrufen auf den Ex-General erfuhr ich, dass er auch für den Einsturz der Brücke von Mostar verantwortlich gemacht wurde. Als Kommandant ließ Slobodan Praljak das Wahrzeichen der Stadt beschießen, weil es von gegnerischen Truppen genutzt wurde.
Am 9. November 1993 stürzte das über 400 Jahre alte Bauwerk ein. Für die Menschen in Mostar und im ehemaligen Jugoslawien war die Brücke mehr als die Verbindung zwischen dem mehrheitlich von Kroaten bewohnten Westteil der Stadt und dem Ostteil, in dem vor allem Bosnier lebten. Sie war ein Symbol für den Versuch zusammenzuführen, was sich angeblich nicht zusammenführen ließ: Christentum und Islam, Okzident und Orient. Ein Sinnbild für Versöhnung. Nach dem Krieg wurde sie wieder aufgebaut. Sie ist nicht mehr dieselbe, aber sie steht. Den Gedanken fand ich irgendwie tröstlich.
Foto: AFP