Das »Ende der Geschichte« fand mein Vater an einem Ort vor, von dem er nie etwas gehört hatte. Ursprünglich träumte er von einem Auslandsstudium in den USA und in Großbritannien. Dann wurde es Bonn. »Westdeutschland ist wirklich ein sehr entwickeltes Land, überall fahren Autos, die Gesellschaft ist sicher«, berichtete er am 16. November 1988 meiner Mutter, die ihm zwei Jahre später nachfolgte. »Am meisten beeindruckt mich die Sauberkeit, draußen ist es genauso sauber wie drinnen. Ich kann eine Woche lang auf der Straße herumlaufen und meine Lederschuhe glänzen immer noch. Die Menschen sind freundlich und hilfsbereit, das Bildungsniveau ist hoch.«
Nach einer bitterarmen Kindheit unter Mao und quälenden Jahren in der eingerosteten Universitätsbürokratie in China war das Stipendium im Westen für meinen Vater der lang ersehnte Befreiungsschlag. An eine spätere Rückkehr dachte zu diesem Zeitpunkt keiner der Jungakademiker, die der Reformer Deng Xiaoping ins Ausland schickte: Wer wäre schon so blöd, nach China zurückzugehen, wo doch auf der anderen Seite des Globus Wohlstand und Freiheit warteten? Meine Eltern verbanden Ende der Achtziger soviel Hoffnung mit dem Westen, dass sie mich nach ihr benannten: das Xi in meinem Vornamen steht für Hoffnung und klingt genauso wie das Zeichen für Westen.
Auch für meine Tanten und Onkel waren Amerika und Europa Sehnsuchtsorte: In den Studentenwohnheimen lief in den Achtzigern erstmals Michael Jackson und Wham!, meine Tante las Kant und Hegel, mein jüngster Onkel protestierte 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens unter einer Kopie der Freiheitsstatue aus Styropor und Gips. Wer gen Westen ziehen konnte, hatte das große Los gezogen. In den Neunzigern bekam ich das zu spüren, wenn ich mit meiner Mutter auf Heimatbesuch in China war. Wir wurden bewundert als diejenigen, die es »geschafft« hatten, allein deshalb, weil eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in Deutschland in unseren Pässen klebte.
Neben Küchengeräten von Siemens, Niveacreme und Gummibärchen brachten wir auch Erzählungen aus einer besseren Welt mit: Mit Worten wie Mehrheitswahlrecht und Fünfprozenthürde konnten sie nicht unbedingt etwas anfangen, mit dem Begriff der Menschenwürde allerdings schon. Mit der Idee, dass niemand über dem Recht steht, auch die Mächtigen nicht. Mit dem Gedanken, dass Regierende unliebsame Meinungen zu respektieren haben. Mit dem Grundsatz, dass auch Schwachen ein Platz in der Gesellschaft zusteht.
»Zuviel Demokratie verträgt eine Gesellschaft wie unsere nicht«, sagte mein Großvater zwar ständig, der in der Kulturrevolution zwanzig Jahre lang unter der Wut der »Massen« litt und Demokratie darum mit Chaos verwechselte. Er ärgerte sich, zurecht, über die Doppelmoral der Amerikaner, wenn sie Menschenrechte in China anmahnten und selbst gegen die Genfer Konvention verstießen. Ihn störte es, wenn EU-Politiker vor laufenden Kameras einen Boykott der Olympischen Spiele in Peking forderten, nur um Monate später mit froher Miene in Peking Milliardenverträge zu unterzeichnen.
Und doch überwog in dieser Melange aus Bewunderung, Neid und dem aus der Kolonialismusgeschichte hergeleitetem Gefühl der Demütigung insgesamt die positive Anerkennung; die Vorstellung, dass die Menschen im Westen nicht nur wohlhabender sind, sondern auch glücklicher; dass es dort nicht nur fortschrittlicher, sondern auch gerechter und freier zugeht.
Wie soll ich heute meinem Großvater Trump erklären? Wie bringe ich ihm bei, dass die freie Welt nun ein Möchtegerndiktator anführt, der die Freiheit verachtet? Dass in Europa Politiker auf dem Vormarsch sind, die Europa abschaffen wollen? Dass in den Geburtsländern der Demokratie sich immer mehr Menschen von der Demokratie abwenden? Dass im aufgeklärten Westen inzwischen viele bereit sind, die Werte der Aufklärung über Bord zu werfen? Wie kann ich es meinen Verwandten verdenken, dass sie angesichts eines ahnungslosen und ignoranten Supernarzissten im Weißen Haus froh sind über ihren Xi Jinping?
Für Xi, Putin, Erdogan und alle anderen autoritären Herrscher dieser Welt ist das Trauerspiel, das der Westen derzeit abgibt, das bestmögliche Machtkonsolidierungsprogramm, das man sich vorstellen kann. Für die ohnehin zuletzt stark geschwächten Reformbewegungen in China und anderswo ist es eine Katastrophe. »Ihr lebt in der besten Gesellschaftsform der Geschichte und schmeißt es einfach weg?«, fragte mich neulich meine Cousine fassungslos. Warum sollten junge Menschen in anderen Ländern für Demokratie kämpfen, wenn Gleichaltrige im Westen es laut einer neuen Harvard-Studie zunehmend selbst nicht mehr wichtig finden, in einer zu leben?
Der Abschied des Westens von seinen eigenen Prinzipien war ein schleichender Prozess, den meine Familie in China genau beobachtet hat. Trump ist bloß der vorläufige Tiefpunkt: Irak-Krieg, Abu Ghraib, Guantanamo, Drohnenkrieg, NSA-Überwachung, die Liste lässt sich fortsetzen. Dass illegale Drohnenangriffe und NSA-Skandal in die Zeit von Obama fielen und die Pressefreiheit in den USA bereits unter ihm zu erodieren begann, macht es umso schlimmer. Auch über Menschenrechte in China wollte zuletzt kaum noch ein westlicher Staatschef sprechen, wenn er in Peking zu Besuch war, geschweige sich denn für sie einsetzen, Angela Merkel mal ausgenommen. Klar, mit welcher Legitimität auch?
Andererseits: Im Einzelfall war es für den einzelnen verfolgten Aktivisten, Journalisten oder Rechtsanwalt immer noch besser, eine ausländische Regierung setzt sich für einen ein als niemand tut es. Ob das mit öffentlich erhobenem Zeigefinger geschehen muss oder besser durch stille diplomatische Kanäle, ist wieder eine andere Frage. Sicher, denkt man an Vietnam, an den Iran, an Lateinamerika, gehörte Doppelmoral immer zum Handlungsarsenal westlicher, vor allem amerikanischer Außenpolitik. Auch wenn die Bushes, Clinton und Obama von universellen Werten sprachen und »alle Menschen« sagten, meinten sie oft nur Amerika. Nun aber hat Amerika einen Präsidenten, der nicht mal mehr behauptet, von Werten geleitet zu sein und sie im eigenen Land mit Füßen tritt. Der selbst pausenlos lügt, aber die Medien der notorischen Lüge bezichtigt.
Wenn Trump nun Journalisten und Künstler an der Einreise behindert und Marine Le Pen Kameramänner verprügeln lässt, schießen sie nicht nur gegen die Pressefreiheit in den USA und in Europa. Sie legitimieren auch die Inhaftierung und Verfolgung von Journalisten in Ländern wie China, Russland und der Türkei. Das Signal an Xi, Putin und Erdogan: Alles richtig gemacht. Es ist die endgültige moralische Bankrotterklärung. Der Lack ist ab. Meine Verwandten sehen im Westen schon lange keinen Sehnsuchtsort mehr. Sondern einen krisengeplagten, wankenden Riesen im Selbstzerstörungsmodus, der den Glauben an sich verloren hat. Der wild um sich schlägt und nun, um sich zu retten, das kaputtmacht, was ihn eigentlich ausmacht. Jahrelang hat er anderswo Chaos gestiftet und sich auf Kosten anderer überfressen. An den Folgen sind jetzt aber bitteschön die anderen schuld.
Wenn chinesische Staatsmedien früher gegen den Westen hetzten, konnte man das recht schnell als billige Propaganda entlarven. Heute können die Propagandisten sich entspannt zurücklehnen. Ihren Job erledigt der Westen schon selbst: Fake News und Gerüchte zersetzen die Öffentlichkeit? Haben wir in China längst im Griff. 62 Millionen Amerikaner stimmen für einen irren Soziopathen? Gut, dass wir in China dumme Menschen nicht wählen lassen. Mark Zuckerberg schleimt sich ein bei chinesischen Behörden? Für Marktanteile tun westliche Firmen alles. Apple verbannt die New York Times App aus dem chinesischen App Store? So ernst kann es denen mit der Pressefreiheit wohl nicht sein. Europäische Regierungen verstärken die digitale Überwachung ihrer Bürger? China hat’s erfunden.
»Warum ist das eigentlich etwas anderes, wenn Edward Snowden wegen Hochverrat verhaftet werden soll, als wenn ein Dissident bei uns im Gefängnis sitzt?«, wollte mein Onkel im Juni 2013 von mir wissen, als Snowden in Moskau sein Asylgesuch einreichte. Tja. Ich konnte ihm keine Antwort geben. Meine Verwandten können es sich inzwischen leisten, Urlaub an der Côte D’Azur zu machen und deutsche Autos zu fahren, sie schauen Blockbuster aus Hollywood und kaufen Wohnungen in Australien, meine Cousinen mögen dieselben Lieder von Beyoncé wie ich. Alles schön und gut. Aber Werte? »Nein, danke, für Werte brauchen wir euch wirklich nicht«, sagen meine Verwandten.
Stattdessen fragen sie: Braucht ihr jetzt nicht umgekehrt China mehr denn je? Macht Xi Jinping nicht etwa die vernünftigere Umweltpolitik als Trump? Spricht er sich nicht für Offenheit und Globalisierung aus? Wirkt er nicht viel präsidialer? Müsste China nicht jetzt den Ton in der Welt angeben? Was wir in Europa jetzt unter postfaktische Politik und Vertrauenserosion diskutieren, kennt meine Familie übrigens längst als Propagandalüge und Zynismus. Von wegen »Ende der Geschichte«. Dass der Westen jetzt immer mehr so wird wie die, die mal so werden wollten wie er, das ist die ironische Pointe in einer Zeit, in der es nicht viel zum Lachen gibt.
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