Schluss mit kulinarischem Eskapismus

Unsere Autorin liebt Hamburger Franzbrötchen – doch seit es die sogar in Münchner Bäckereiketten gibt, verzichtet sie gerne darauf. Ein Plädoyer dafür, lokale Spezialitäten dort zu genießen, wo sie herkommen. 

Franzbrötchen, schön drapiert in einem Münchner Café.

Foto: Alessandra Schellnegger

Es begann vor knapp zwei Jahren. Ich war neu in München, nach einer langen Zeit in Hamburg, und wenn man irgendwo neu ist und unsicher, dann hilft es, sich an Vertrautem festzuhalten. Oder Vertrautes zu essen. Also begab ich mich in München auf die Jagd nach Franzbrötchen, nach diesen zimtigen Plunderteilchen, die ich in Hamburg lieben gelernt hatte, weil sie nicht nur wahnsinnig gut schmecken, sondern in Kombination mit Pfefferminztee oder Grog der beste Trostspender an Schietwettertagen sind. Davon gibt es in München zwar nicht so viele, aber es ging mir beim Franzbrötchenessen an der Isar auch weniger ums Wetter als um dieses wohlige Gefühl, das sich im ganzen Körper ausbreitet, wenn die Butter langsam durch die Adern rinnt. Kamen Freunde aus Hamburg zu Besuch, bat ich sie immer, am Flughafen noch schnell ein Franzbrötchen für mich zu kaufen (bitte entschuldigt die Fettflecken in eurem Handgepäck!), halb aus Nostalgie-, halb aus Genussgründen.

Das müssen sie jetzt nicht mehr. Denn im vergangenen Jahr hat die Zahl der Franzbrötchen in München extrem zugenommen. Oder dessen, was sich so nennt. Man bekommt sie überall: in Bäckereiketten, in kleinen Hipster-Cafés, in ranzigen Wurstbrötchen-Bier-Kiosken, in S-Bahnstationen. Vor zwei Jahren noch musste ich detektivartige Schnüffelarbeit leisten, um die paar spärlichen Franzbrötchenquellen in München aufzuspüren, und wenn ich eine gefunden hatte, ging ich sofort zum Geschmackstest über: Genug Zimt? Zu viel Marzipan? Zu trocken? Zu hefeteigig?

Heute muss ich nicht mehr suchen und einen Geschmackstest machen erst recht nicht, denn die meisten schmecken gleich: zu wenig Zimt, zu viel Marzipan, zu trocken. Eine bekannte Münchner Bäckerei, die wirklich hervorragenden Apfelstrudel macht, versucht sogar, ihr Franzbrötchen-Unwissen unter einer dicken Zuckerglasur zu verstecken. Zuckerglasur! Vor ein paar Monaten wäre mir das vermutlich egal gewesen, ich hätte trotzdem reingebissen. Jetzt gehe ich an neun von zehn Franzbrötchen vorbei, ich will kein mittelmäßiges Trendgebäck, das mich langweilt. Ich will mein tröstendes Buttergefühl zurück.

Meistgelesen diese Woche:

Natürlich kann ich mir vorwerfen, dass ich selbst schuld bin an der Franzbrötchenflut in München, weil: Nachfrage erhöht Angebot und umgekehrt. Und natürlich weiß ich, dass jeder dieses Gefühl kennt, dessen (vermeintlich) heimliche Leidenschaft massentauglich gemacht und somit irgendwie degradiert wird.

Aber, und damit meine ich auch mich selbst, warum finden wir uns nicht einfach damit ab, dass lokale Spezialitäten eben lokal am besten schmecken? Warum trinken wir Astra-Bier in München und fühlen uns dabei auch noch so komisch überlegen-verwegen, obwohl es in Bayern viel besseres Bier gibt? Warum kaufen wir Pastéis de Nata in der Kaffeebar um die Ecke, obwohl sie niemals so gut schmecken werden wie die Originale aus Belém?

Fürs Gefühl, schon klar, um uns kurz zurückzuversetzen in den Portugalurlaub, in das Konzertwochenende auf dem Hamburger Kiez, in eine andere Stadt, ein anderes Land – ein anderes Leben. Kulinarischer Mini-Eskapismus. Und um nebenbei unseren Mitmenschen zu zeigen: Schaut mal, ich kenne das, ich war da schon.

Es ist schön, dass das möglich ist, sonst hätte ich vermutlich nie Hummus kennengelernt oder Kimchi, ohne ins Flugzeug steigen zu müssen; für die großen, ein Land oder eine Kultur prägenden Spezialitäten, die vielleicht irgendwann übergehen in unseren Alltagsgebrauch, ergibt dieser Austausch total Sinn. Was wäre das schon für ein Leben ohne Baguette? Was ich meine, sind die kleinen Feinheiten, die lokales Gebäck (statt Franzbrötchen könnte man in München ja gut Zimtschnecken essen) oder lokales Bier ausmachen und die sie an einem ganz bestimmten Ort verankern. Die gehen im Alles-immer-überall-haben-Transfer schnell verloren, und das Tragische dabei: Auf diese Weise verwässert allmählich unser Gefühl für das Original.

Mein Vater zum Beispiel hat irgendwann eingesehen, dass es eine schlechte Idee ist, Flensburger Pilsener zuhause zu trinken, nur weil er sich dann kurz fühlte, als säße er an der Ostsee im Strandkorb. Schmeckt einfach nur halb so gut, wenn es auf einer Terrasse im Rhein-Main-Gebiet getrunken wird. Ein österreichischer Kollege berichtete kürzlich, dass er geradezu vor den Kopf gestoßen war, als er entdeckte, dass eine Münchner Feinkostkette seine Topfengolatschen in der Vitrine liegen hatte – obwohl sie nirgends anders hingehören als in ein Wiener Kaffeehaus.

Und noch etwas spricht dafür, die Dinge dort zu konsumieren, wo sie herkommen: die Vorfreude. Als ich neulich zu Freunden nach Hamburg reiste, fragte ich sie, ob ich ihnen ein paar echte Münchner Weißwürste mitbringen soll. Nee, meinten sie, nicht nötig, der Rewe nebenan habe auch welche in der Frischetheke. Lieber wollten sie mit mir in ein richtiges Münchner Wirtshaus zum Weißwurstfrühstück gehen, wenn sie mich das nächste Mal im Süden besuchen. Voll gut, so machen wir’s.