Ich musste nicht lange überlegen, als letztes Jahr im Dezember eine Nachricht in der Whatsapp-Gruppe meiner alten Freunde kam: »Jungs, am 13.6.2017 spielen Guns N'Roses in München. Ihr wisst, was zu tun ist – lasst es uns zuende bringen«. Eine Minute später meine Antwort: »Dabei! Geil.«
Guns N'Roses waren früher die Größten für uns, wir waren in der sechsten Klasse, ließen uns die Haare wachsen und lebten in Reihenhäusern am Stadtrand von Nürnberg, umgeben von Familien mit Rasenmähern, polierten Audis und Dackeln. Wir verachteten die Blockflötenkinder aus der Parallelklasse, die in Poesiealben in die Rubrik »Lieblingsbands« so unfassbar blöde Sachen schrieben wie: Take That und Radio. Guns N'Roses waren viel lauter und bunter und wilder als alles, was im Kosmos eines irgendwo zwischen Kindheit und Jugend umherirrenden Gymnasiasten sonst so vorkam: Latein-Hausaufgaben, Nintendo, Gitarrenunterricht (bei einem Lehrer, der solche Rockbands schrecklich fand). Mein Zimmer war voller Poster von Slash und Axl aus der Bravo, das Cover des Albums »Appetite for Destruction« habe ich abgepaust und ausgemalt.
Ich gehöre zur wohl letzten Generation, die in der ersten großen Selbstfindungsphase zwischen zwölf und fünfzehn noch kein Internet hatte. Wir mussten uns in Fragen der Popkultur auf Bravo-Berichte und Legenden von größeren Geschwistern verlassen, was Bands wie Guns N'Roses eine gigantische Aura verlieh. Für meine Freunde und mich waren Gitarrist Slash und Sänger Axl Sagengestalten mit übermenschlichen Fähigkeiten. Trinken die nicht jeder eine Flasche Jack Daniels vor jedem Konzert? Bekommt Slash für jedes Lied eine neue Gitarre? Die Band soll angeblich im eigenen Flugzeug unterwegs sein und Konzerte absagen, wenn die falsche Whiskeymarke in der Garderobe steht. Und musste nicht bei irgendeinem aus der Band das ganze Blut per Transfusion ausgetauscht werden, weil er soviel Drogen genommen hat? Mit glühenden Wangen stellten wir uns vor, dabei zu sein bei so einem Konzert, im T-Shirt, ganz vorne, jedes Lied mitsingend, irgendwer gibt uns Bier und Schnaps und Zigaretten, wow, Exzess. Erwachsensein, totale Freiheit. Dass meine Eltern mich 1993, als Zwölfjährigen, nicht auf das Konzert nach München ließen, habe ich ihnen lange übel genommen. Und mit meinen Freunden ausgemacht: Zum nächsten Konzert in Deutschland, fahren wir. Ehrenwort? Ehrenwort!
Als die Band ein paar Jahre später (und ohne weitere Deutschlandkonzerte) im Streit auseinanderfiel, hatte ich schon andere Lieblingsmusiker. Aber ohne Guns N'Roses hätte ich vielleicht nie die Liebe zur lauten Rockmusik entwickelt, sie waren die erste Band, die mich umgehauen hat. Ich entdeckte Punkrock und Indie für mich, der karnevaleske Knallbonbon-Rocknroll verblasste. Irgendwann zog ich in eine andere Stadt.
Doch ein paar Freunde von damals sind mir geblieben, wir sehen uns nicht mehr so oft, klar, aber ab und zu besuchen wir uns gegenseitig in den Reihenhäusern am Stadtrand, in denen wir heute selbst leben, Mitte dreißig, kleine Kinder, Sandkasten, wir grillen Halloumi und trinken Radler. In unserer Whatsapp Gruppe folgt auf das »lass es uns zuende bringen« schnell eine Debatte über die grundsätzliche Machbarkeit so eines Konzertbesuchs: »Oh je, ein Dienstag« schrieb einer. »Bin raus. Zu teuer«, antwortet ein anderer. Es stimmt ja: Die Band hat sich für viel Geld noch mal aufgemacht, in Originalbesetzung durch die Welt zu touren, um Menschen wie uns so einem »Weißt-du-noch-früher«-Abend in die Stadien zu locken. Die Tournee heißt »not in this lifetime«, lange galt die Band als zu zertritten, um je wieder zusammen aufzutreten. Und überhaupt: Was heißt schon Band? Der Gitarrist Slash, Bassist Duff und Sänger Axl sind dabei, außerdem der Keyboarder Dizzy Reed. Der alte Schlagzeuger und ein Gitarrist fehlen, aber das ist egal, Slash, Duff und Axl sind das funktionale Minimum und genau das bekommen wir nun also.
Auch unser Freundeskreis tritt in Minimalbesetzung an, zwei alte Freunde kommen mit am Dienstag, wenn Guns N'Roses in München spielen. Obwohl wir früh dran waren mit dem Kartenkauf, haben wir für 100 Euro nur noch Tickets für Sitzplätze irgendwo am Rand bekommen. Vorne stehen, im T-Shirt mit Bier können wir also schon mal vergessen. Gäbe es die Möglichkeit, mit der Vergangenheit zu kommunizieren, könnte ich meinem dreizehnjährigen Ich zurufen: Erwachsensein, schon super, aber es heißt eben auch: Kompromisse machen. Du wirst in einem Reihenhaus in München leben, statt in einer umgebauten Fabrikhalle in New York. Einen VW-Caddy fahren statt einen Ford Mustang mit aufgesprayten Flammen und Plüschwürfeln am Rückspiegel. Sitzplatz am Rand statt ganz vorne stehen mit Schnaps. Das Konzert von Guns N'Roses ist für mich also auch ein Abschied von der jugendlichen Naivität, dass man immer alles haben kann, was man will.
Als einige meiner alten Freunde einen Rückzieher machten, dachte ich: Wie kann man sich das entgehen lassen? Wenn die Band sich noch mal aufrafft, Freunde, dann müssen wir das ja wohl auch. Abmachung gilt. Und doch spüre ich neben der Vorfreude eine gewisse Melancholie. Mit dem Konzertbesuch wird das letzte offene Versprechen meiner Jugend eingelöst.
Das Konzert wird wenig Überraschendes zu bieten haben. YouTube hat einiges zur Entmystifizierung von Guns N'Roses beigetragen, die Konzerte der aktuellen Tour kann man dort komplett sehen. Auf der Bühne: ältere Männer mit verblassten Tätowierungen, die so tun, als wäre nichts gewesen. Sie werden »It’s so easy« spielen, »Mr Brownstone« die Skilager-Mitsing Version von »Knockin’ on Heavens Door« und am Ende wird Axl Rose bei »Paradise City« seine Trillerpfeiffe in Publikum werfen, dann Feuerwerk, Konfetti, Thank-you-Munich. Ich werde Bier trinken und von meinem Randplatz aus mitsingen, nach dem Feuerwerk meine Freunde zum Abschied umarmen und nach Hause ins Reihenhaus fahren. Und beim Rausgehen vielleicht ein T-Shirt kaufen, das ich beim Rasenmähen anziehen kann.
Foto: Reuters