Jetzt also Aufräumen. Nach Fitness (Personal Trainer), Essen (ErnährungsberaterIn), Beruf (Business Coach), Wohnung (EinrichtungsberaterIn) und Mode (StylistIn) ist das neue große Ding der Selbstoptimierung: die Aufräumberatung. Seit Neujahr zeigt die Streaming-Plattform Netflix die Tricks der japanischen Aufräumexpertin Marie Kondo. Die besucht in der achtteiligen Serie amerikanische Familien, Paare oder Singles und hilft ihnen beim Ausmisten und Aufräumen.
Ihre Aufräummethode, »Konmari« genannt, ist überraschend einfach. Alles, was man besitzt, auf einen Haufen werfen, dann jedes Teil anfassen und sich fragen: Bringt es mir noch Freude? Wenn nicht, kommt es weg. Die Japanerin hat mehr als sieben Millionen Ratgeber-Bücher verkauft. Es klingt sektenhaft, wenn man sich die Fünf-Sterne-Rezensionen auf Amazon zu ihrem Bestseller »Magic Cleaning« durchliest: »Dieses Buch hat mein Leben verändert« ist oft zu lesen, »kommt beinahe einer Bibel gleich«, schreibt ein Käufer. Unter #konmari posten Instagram-User ihre sortierten Schränke und Schubladen.
Am Ende der Netflix-Folgen sieht man glückliche Menschen, manchmal fließen Freudentränen, das Haus ist endlich aufgeräumt - und Marie Kondo verabschiedet sich mit einem putzigen Augenaufschlag und sanften Lächeln. Aber fertig ist eigentlich gar nichts: Kondos Aufräumphilosophie endet bei der dezent entrümpelten Wohnung. Das ist schade. Denn hier könnte es erst spannend werden: Warum kaufen die Menschen, die sie um Hilfe rufen, eigentlich so viel? Was steckt hinter ihrem und unserem Einkaufsverhalten? Können wir es ändern? Und sollten wir das nicht dringend?
Marie Kondo dämmt die Berge an Besitztümern zwar auf schicke Art ein, geht aber dabei nicht an die eigentlichen Wurzeln des Problems: ein Wirtschaftsmodell, das darauf ausgelegt ist, stetig zu wachsen; kein Ladenschluss mehr in den Kaufhäusern, dafür andauernder »Sale«; Instagram-Influencer, die ihren Millionen Followern täglich zeigen, welche Produkte sie unbedingt brauchen; Modeimperien wie Zara und H&M, die fast schon wöchentlich die Kollektion erneuern - immer günstig, immer erschwinglich. Die dafür nötigen Arbeitsbedingungen, den Rohstoffverbrauch, die Umweltbelastung übersehen wir gerne.
Das Beunruhigende ist: Die Menschen, denen Marie Kondo so nett auf Netflix hilft, sind nicht einmal klassische Kaufsüchtige. Sie sind vom ganz normalen Besitzstand des westlichen Mittelstands überfordert. In Folge 7 zeigt ein Mann, Mario, stolz seine von 160 auf 45 Paar Sneaker reduzierte Schuhsammlung. Für Marie Kondo sind 45 Paar Turnschuhe ein Aufräumerfolg. »Ich glaub nicht, dass ich zu dem zurückkehre, was vor Marie war«, sagt Mario noch. Dann ist Schluss, der Aufräum-Porno ist vorbei, der Zuschauer bleibt mit angenehmen Bildern im Kopf zurück. Dabei würde es jetzt spannend werden. Kann der Mann widerstehen, wenn er im nächsten Schuhladen steht? Oder Wendy Akiyama aus Folge 2, sie löscht jetzt die Werbemails von ihren Lieblingsläden. Wird sie beim nächsten Mal Shopping stark bleiben?
Die Serie spielt in den USA, könnte aber genau so gut in Deutschland stattfinden: Laut Statistischem Bundesamt steigen die Ausgaben privater Haushalte für Bekleidung und Schuhe stetig. Black Friday, Weihnachten, der Sale nach Weihnachten, Winterschlussverkauf, neue Frühjahrskollektion, Midterm-Sale, Sommerschlussverkauf, ein Kreislauf, der nicht endet.
Professionelle Aufräumcoaches wie Marie Kondo gibt es nicht nur in den USA und Japan, sondern auch hier in Deutschland. Wenn man sie befragt, sehen sie Marie Kondo eher kritisch. Viele ihrer Kunden haben die Bücher von Kondo gelesen, aber kämen damit nicht zurecht. Weil hinter unserem Konsum nicht selten Frustration steckt. Weil Shopping fehlende Liebe, Lob oder Wertschätzung ersetzen soll.
Aufgeräumt – Streit in der Beziehung beendet. Aufgeräumt – Überforderung mit dem Haushalt und den Kindern weg. So einfach ist es nicht. In der letzten Folge der Serie schwärmt eine Angela, dass Marie Kondos Besuch eine Lebensveränderung für sie ist. Wie schön das wäre: Wenn wir mit der immer gut gelaunten Marie Kondo unseren Lebensstil wirklich verändern würden. Weniger besitzen, weniger verbrauchen, mehr teilen.
In ihren Büchern schreibt Kondo, dass man die richtige Menge von Besitz »spüren« würde während des Aufräumens. Doch was man für richtig hält, hat ebensoviel mit gesellschaftlichen Normen wie mit dem eigenen Empfinden zu tun. Wenn sich 45 Paar Sneaker richtig anfühlen, sollten wir vielleicht ernsthaft hinterfragen, ob wir alles, was wir »spüren« auch wirklich brauchen.