Stellen wir uns vor, Uli Hoeneß wäre Ende 2017 in Rente gegangen, mit damals 65 Jahren, bestes Ruhestandsalter. Er hätte am 31. Dezember noch eine letzte Kiste aus seinem Büro an der Säbener Straße getragen, beim Rausgehen zufrieden auf die volle Pokalvitrine geblickt und die Hausschlüssel am Parkplatz dem gerade ankommenden Philipp Lahm zugeworfen.
Dann wäre Hoeneß zu seinem Haus am schönen Tegernsee gefahren, um dort den Beginn eines neuen Jahres und neuen Lebensabschnitts zu feiern. Nie mehr Berufsverkehr. Den Blutdruck mal dauerhaft senken. Sich nicht mehr so sehr über Gegentore und Journalisten ärgern müssen.
Seinen FC Bayern hätte Hoeneß in bester Verfassung hinterlassen: Die Mannschaft überwinterte 2017 mit elf Punkten Vorsprung an der Tabellenspitze, betreut von Hoeneß' Lieblingstrainer Jupp Heynckes. Das Stadion war da längst abbezahlt, das Festgeldkonto beruhigend voll. Er hatte allen gezeigt, dass ihn das Gefängnis nicht gebrochen hat und er wieder der starke Mann beim FC Bayern war. Er wäre gegangen als Legende, als Vereinsheiliger.
Aber Uli Hoeneß, inzwischen 66, ist nicht zurückgetreten. Er hat lieber zurückgetreten, verbal. Bei der denkwürdigen Pressekonferenz am 19. Oktober mit Karl-Heinz Rummenigge und Hasan Salihamidžić. Es war der bisher seltsamste Ausritt von Hoeneß' »Abteilung Attacke«, die wieder mal aus der Trutzburg FC Bayern herausstürmte, um alle Feinde niederzumachen.
»Sag mal, was ist denn mit eurem Uli los?«, schrieb ein Freund aus Bremen danach, ein großer Werder-Fan. Seine Nachricht klang nicht spottend oder empört, wie früher, wenn Honeß vor den Kameras ausgeteilt hatte, sondern eher besorgt. Eine Kollegin, Bayern-Fan, fand: »Hoeneß wird immer mehr zur Alice Schwarzer des Fußballs – hat unglaublich viel erreicht, beschädigt am Ende aber mit umstrittenen Aussagen das eigene Denkmal.«
Etwa Hoeneß' polemische Kritik an Mesut Özil und Juan Bernat, das monatelange und absehbar vergebliche Werben um Jupp Heynckes' Vertragsverlängerung, die übers Ziel weit hinausschießende Pressekonferenz. Könnte Hoeneß überhaupt ohne den FC Bayern leben? Oder wird er nie loslassen? Weil er glaubt, niemand könne den Job so gut wie er?
Wenn man als kleiner Junge in den 80er Jahren seine Liebe zum FC Bayern entdeckt hat, war Uli Hoeneß immer schon da. Man hat ihn mit Christoph Daum streiten sehen, mit Willi Lemke, Helmut Krug, Christian Ude, Campino, Rudi Assauer, mit dem halben Land. Bei solchen Wortgefechten waren die Vereinsfarben nicht mehr rot-weiß, sondern wutrot-kreidebleich. Hoeneß' öffentliches Auftreten wurde zum Selbstverständnis des Clubs. Zugleich machte er den FC Bayern nach Innen zur großen, oft warmherzigen Familie, zu seiner Familie.
Aber jedes Familienoberhaupt kriegt ein Problem, wenn die Jugend nicht mehr mit ihm feiern möchte. Oliver Kahn und Philipp Lahm galten mal als mögliche Sportdirektoren. Thomas Tuchel ging als Trainer nach Paris, Jürgen Klopp bleibt lieber in Liverpool.
Unter Bayern-Fans ist es keine Gotteslästerung mehr, zu diskutieren, ob das größere Problem des FC Bayern nicht der absehbare Abschied von Robben und Ribéry ist, sondern vielleicht der nicht absehbare Abschied von Hoeneß und Rummenigge.
So ein Satz wirkt ungerecht nach sechs Meisterschaften in Folge und einem im Frühjahr 2018 nur knapp verlorenen Champions-League-Halbfinale. Andererseits hat Hoeneß schon 2016 gesagt: »Das Werk, das Karl-Heinz und andere und ich hier aufgebaut haben, das müssen wir demnächst in gute Hände legen.«
Aber die weitsichtige Personalplanung erkennt man als Fan gerade nicht: Mit Matthias Sammer und Michael Reschke haben wichtige Stimmen den Verein verlassen, es kam der treue Gefolgsmann Salihamidžić. Der FC Bayern wirkt derzeit wieder mal wie ein FC Hoeneß. Ob ein Trainertyp wie Jürgen Klopp unter so einem mächtigen Präsidenten überhaupt arbeiten wollte?
Wenn man sich im Archiv alte Berichte über den FC Bayern durchliest, steht da, dass der Verein gar nicht von Uli Hoeneß gegründet wurde – sondern schon im Jahr 1900. Bevor Hoeneß 1970 als Achtzehnjähriger zu den Bayern kam, war der Verein bereits zwei Mal Deutscher Meister. Und als die Bayern 1974, 1975 und 1976 in Folge den Europapokal gewannen, war Hoeneß zwar ein wichtiger Spieler, aber den Verein führten andere.
Ein FC Bayern ohne den sehr geschäftstüchtigen, wirtschaftlich bestens vernetzten Hoeneß wäre nicht ohne Risiko, aber möglich. Auch ohne Uli wäre noch genug Hoeneß-DNA im Verein, um weiter Mia San Mia zu sein. Wie würde ein FCB ohne ihn bestenfalls aussehen? Die Trainer hätten wohl mehr Freiheiten, das Auftreten des Vereins wäre ein wenig zurückhaltender, der Stallgeruch bei Personalentscheidungen nicht so wichtig. Klingt, als könnte man es mal riskieren.