»Ich finde hier Dinge, nach denen ich gar nicht gesucht habe«

Der britische Modedesigner Paul Smith über die kreative Kraft der Unordnung.

Es ist nicht wirklich unordentlich in Sir Paul Smiths Büro, das sich im 4. Stock eines alten Backsteinbaus im Londoner Stadtteil Covent Garden befindet, eher voll, sehr voll. Überall Türme von Material: auf dem Schreibtisch, in den Regalen, auf dem Boden, auf den Fensterbänken. Dazwischen Kisten, Tüten, Kleiderberge, Taschen, Fahrräder, Fotoapparate. Es ist ein Kunstwerk, über Jahre aufgestapelt und geschlichtet, so filigran, dass man Angst hat, alles kracht zusammen, zieht man nur ein Buch heraus. Nur der lange Konferenztisch aus Holz, der ist leer. Dort sitzt Paul Smith ein wenig wie ein König in seiner Schatzkammer und nippt gut gelaunt an seinem Tee.
SZ-Magazin: Herr Smith, hier in Ihrem Büro sieht es aus wie in einer Abstellkammer eines Schöngeists. Wie kann man hier arbeiten?
Paul Smith: Gemütlich, oder? Das hat sich einfach angesammelt.

Auf Ihrem Schreibtisch ist kein Platz.
Der ist eher eine Art Ablage, aber eine sehr inspirierende.

Wie lang hat es gedauert, diese Sachen hier zusammenzutragen?
Wissen Sie, das hier ist nur das neue Zeug. Als ich 2000 in dieses Gebäude umzog, war dieser Raum leer. Ich hasse Umzüge so sehr, dass ich damals meinen ganzen Plunder einfach im alten Büro gelassen habe. Der Großteil meiner Sachen ist also noch dort. Wahrscheinlich knabbern gerade ein paar Mäuse dran. Ich war seitdem erst zweimal wieder da, und jedes Mal fühlt es sich an, als betrete ich eine Zeitkapsel.

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Hier aber kommen Sie nicht mal bis zu Ihrem Schreibtischstuhl, weil er von Kisten umzingelt ist.
Den benutze ich ohnehin nie. Ich arbeite immer am großen Konferenztisch.

Ist vielleicht besser so, sonst erschlägt Sie noch einer der Bücherstapel hinter dem Stuhl.
Das könnte eines Tages durchaus passieren. Wäre ein würdiger Abgang. Ein paar Dinge fallen ins Auge, etwa die vielen Basteleien und Kuriositäten - wie die Modelleisenbahn im Aktenkoffer. Wo finden Sie solche Sachen? Die Bücher habe ich fast alle selbst besorgt. Die meisten anderen Dinge sind Mitbringsel von Reisen und Geschenke von Fans. Das kommt hier jeden Tag per Post an, unglaublich interessante und rührende Sachen. Es gibt ein 15-jähriges Mädchen aus Belgien, das schickt mir seit vier
Jahren kleine Kunstwerke. Zum Beispiel hat sie die englische Königsfamilie aus Erdnussschalen gebastelt. Und eine Weihnachtskrippe, ebenfalls aus Erdnussschalen. Dem kleinen Jesus fehlt leider ein Auge.

Antworten Sie auf solche Post?
Wenn ein Absender dabei ist, ja. Es ist das Erste, was ich morgens mache: ein paar Postkarten schreiben.

Keine E-Mails?
Ich habe keine E-Mail-Adresse. Ich hab auch keinen Computer.

So alt sind Sie auch wieder nicht.
Ich habe ein Handy. Das muss reichen. Höchstens zehn Leute haben meine Nummer. Für alles andere habe ich Assistenten. Daheim haben wir übrigens auch keinen Computer, meine Frau hat nicht mal ein Handy. Anrufbeantworter gibt es auch nicht. Es funktioniert auch so bestens.

Es heißt, Ihr Freund, der Apple-Designer Jonathan Ive, schickt Ihnen jedes neue Produkt zu, noch bevor es auf den Markt kommt.
Das stimmt. Die sind irgendwo unter den Kisten. Wir kennen uns schon sehr lange und pflegen eine Brieffreundschaft. Er sagt immer: Du bist wirklich der einzige Fucker auf der Welt, der mich dazu bringt, Briefe zu schreiben! Er hat übrigens eine wunderschöne Handschrift.

Wofür braucht man so viel Material um sich herum?
Alles in diesem Raum hat zu tun mit groß und klein, mit lässig und elegant, mit alt und neu, mit Kitsch und Schönheit - alles Fragen, die mich als Modedesigner sehr interessieren. Harris Tweed oder Seide, Arbeiterhemd oder Kaschmiranzug oder beides zusammen? Darum geht es. Manchmal finde ich hier Dinge, nach denen ich gar nicht gesucht habe.

Wie behalten Sie den Überblick in diesem Chaos?
Wenn ich mit meinem Team am Konferenztisch sitze, greife ich manchmal wahllos hinter mich ins Bücherregal und sage: Genau so wie das da! Dann denken alle: Er weiß genau, wo was ist. Dabei ist es reiner Zufall. Ich schnapp mir einfach das erstbeste Buch. Aber ich finde mich schon zurecht.

Gibt es jemanden, der hier Ordnung schafft?
Nein. Und wenn doch, merke ich es sofort. Zum Beispiel nach meinem Sommerurlaub. Ich weiß genau, wenn hier jemand herumgeräumt hat!

Gibt es Momente, wo Sie eine Sehnsucht nach Leere und Entrümpelung spüren?
Die Wahrheit ist: Mir fällt es schwer, mich von Dingen zu trennen. Meine Frau ist da schmerzfreier: Sie gibt regelmäßig Sachen zu Secondhandläden von Wohltätigkeitsorganisationen. Meine Sachen! Erst kürzlich sagte sie wieder: Du hast zu viele Klamotten, das muss weniger werden. Und zu viele Uhren. Also hab ich mich breitschlagen lassen und welche weggebracht.

Auch in so einen Laden?
Nein, hierher natürlich! In meinem Haus gehört mir ein Raum, und ihr gehört der Rest des Hauses. Meine Frau sagt: Es ist eine Krankheit. Ich sei ein Horter.

Und? Hat sie recht?
Nein, nein, ich bin kein Sammler. Aber ich habe eine große Anzahl gleicher Dinge.

Nun ja.
Was ich meine, ist: Ein echter Sammler weiß alles über den Gegenstand seiner Obsession. Über Porzellan oder Uhren. Sammler sind wie Wissenschaftler. Ich muss nicht alles wissen über meine Schätze.

Warum müssen Sie sie dann besitzen?
Weil ich angezogen werde von ihnen. Oder sie von mir. Ich bin ein sehr spontaner Mensch. Wenn mir etwas gefällt, dann nehm ich es mit. So wie diese Abzüge einer Degas-Fotografie hier aus dem Jahre 1895. Die habe ich neulich in Paris gefunden.

Es ist gefährlich, Dinge zu tun, weil man denkt, sie seien gerade in Mode

Hier stehen auch jede Menge Hightech-Rennräder. Als Sie jung waren, wollten Sie Radprofi werden. Radeln Sie noch viel?
Ja, gelegentlich, im Sommer. Zurzeit nehm ich am liebsten mein Fixie.

Diese Räder ohne Bremse? Tragen Sie wenigstens Helm?
Nein. Sollte ich aber, was? Genug Helme hätte ich ja. Sehen Sie: da oben auf dem Regal.

Am Anfang Ihrer Karriere waren Sie Dekorateur in einem Kaufhaus. Hat sich diese Ader fürs Einrichten erhalten? Zum Beispiel bei Ihnen zu Hause?
Unser Haus in London ist sehr verschroben eingerichtet. Viele antike Möbel, aber dazwischen eben ein Tom-Dixon-Stuhl aus Altmetall. Oder Zeichnungen von Kindern in 150 Jahre alten Holzrahmen. Solche Brüche mag ich. Classics with a twist, Sie wissen schon.

Ihre Empfehlungen, was man beim Einrichten beachten sollte?
Kenne dich selbst. Analysiere dich ehrlich. Es ist gefährlich, Dinge zu tun, weil man denkt, sie seien gerade in Mode. Möglicherweise entsprechen sie nicht deinem Naturell. Was Mode betrifft, magst du vielleicht denken, ich sollte mich extravagant kleiden, aber vielleicht passt das weder zu deinem Körper noch zu deinem Lifestyle oder zu deinem Alter. Das Gleiche gilt für Möbel. Was nützt dir ein minimalistisch eingerichtetes Haus mit angesagter Kunst an der Wand, wenn du nicht glücklich darin bist? Du musst die Kunst an der Wand von ganzem Herzen lieben, sonst ist es nur Dekoration, Angeberei.

Wie steht es mit Farbe?
Auch das ist eine persönliche Sache. Aber es stimmt schon, dass die Menschen nach Jahren des Schwarz-Weiß und des Minimalismus wieder mehr Farbe in ihr Leben lassen. Oder Teppiche und Tapeten. Gott sei Dank.

Was brauchen Sie, um sich zu Hause wohlzufühlen?
Nicht viel. Ich bin sehr easy-going. Was ich brauche? Pauline, meine Frau.

Die Frage zielte eher auf die Möbel.
Sofas, mit nicht zu kurzer Rückenlehne. Essstühle, bei denen Gäste nicht nach einer Stunde überlegen, wann sie wieder heimgehen können, weil sie so unbequem sind. Ich brauche keinen Fernseher. Ich muss gestehen, ich bin auch selten zu Hause. Für mich ist Wohnen was sehr Praktisches.

Dann gibt es für Sie gar keine allgemeinen Regeln?
Ich glaube nicht. Nur sind leider viele Leute so unsicher, dass sie sich lieber auf Klischees verlassen. Andere verwechseln ihren eigenen Geschmack mit Statussymbolen.

Sie haben vor ein paar Jahren eine kleine Kollektion für den italienischen Möbelhersteller Cappellini gemacht. Gibt es bald eine eigene Möbellinie von Ihnen?
Eher nein. Ich werde oft von Möbelherstellern angefragt, ob ich etwas entwerfe. Aber im Vertrauen, ich glaub nicht, dass ich dafür ein großes Talent besitze. Es wäre etwas respektlos, da auch noch mitmischen zu wollen. Wenn ich was mache, dann ist es eher dekorativ, Stoffe für Polster oder Sessel.

Schon mal was bei Ikea gekauft?
Ich glaube nicht. Das hat aber keinen bestimmten Grund. Ikea ist immer so weit außerhalb. Außerdem muss man die Sachen selber zusammenbauen. Der Tisch, den ich zusammenbauen müsste, hätte am Ende Beine, die nach oben zeigen.

Als Heimwerker fallen Sie also aus?
Nicht wirklich. Einen platten Reifen flicke ich im Nu. Kürzlich habe ich dummerweise ein paar Probleme in der Wohnung behoben: eine tropfende Klospülung, einen wackelnden Handtuchhalter. Jetzt weiß meine Frau Bescheid. Das war ein Fehler.

Haben Sie einen Garten?
In London haben wir einen Dachgarten, in Italien einen ganz normalen. Pauline ist die Gärtnerin. Ich bin der Kehrer, ich mach sauber, ich entstaube die Bäume.

Stimmt es, dass Ihre Frau Pauline einen großen Anteil an Ihrem Erfolg hatte?
Oh ja. Ich habe meine Frau Pauline Ende der 60er-Jahre getroffen. Seitdem ging es bergauf mit mir. Sie hat das Royal College of Arts als Modedesignerin abgeschlossen und mir viel beigebracht. Heute ist sie Künstlerin. Ihr Anteil an meinem Erfolg ist unermesslich. Sie ist sehr belesen, sehr zurückhaltend. Also alles, was ich nicht bin. Wir ergänzen uns gut. Sie sieht übrigens auch fabelhaft aus!

Jemals darüber nachgedacht, was mit diesen Massen an Dingen geschehen soll, wenn Sie nicht mehr da sind?
Ich werde ein Museum eröffnen. Ich meine, nicht ich persönlich. Einer wird es tun. Ein Museum of Nonsense.

Foto: Getty Images