SZ-Magazin: Finden Sie Verkehrslärm ein angenehmes Geräusch?
Renzo Vitale: Oft nicht, natürlich. Ich muss dann immer an John Cage denken, der in einem Interview sagte, er höre am liebsten Stille – und die Stille, die wir heute kennen würden, sei der Verkehr.
Wie wird in fünfzig Jahren eine vielbefahrene Straße klingen?
Anders als heute, das ist sicher. Aber hören wird man den Verkehr auf jeden Fall noch.
Warum gibt es keine geräuschlosen Autos?
Bauen können wir die schon jetzt. Aber in vielen Ländern muss ein Fahrzeug – auch ein Elektrofahrzeug – beim Fahren einen bestimmten Schalldruck erzeugen, um die Fußgänger zu warnen. Das verlangt das Gesetz. Sound ist Information, auch darüber, dass überhaupt ein Auto da ist.
Sie gestalten den Klang von Elektrofahrzeugen. Wenn die Autos selbst keinen Lärm mehr machen – woher kommen dann die Geräusche?
Wir bauen den Klang am Computer und spielen ihn über kleine Lautsprecher aus, nach außen und in den Innenraum. Das heißt, wir können zum ersten Mal, seit es Autos gibt, frei entscheiden, wie sie klingen sollen. Nachgedacht wird darüber schon seit vielen Jahren, aber das, was wir gerade machen, wird den Straßenverkehr in ein paar Jahren auch wirklich prägen. Übrigens, nur eine Kleinigkeit: Wir reden nicht über Geräusche, sondern über Sound.
Worin liegt der Unterschied?
Ein Freund aus New York schickt mir fast jeden Tag Fotos, die er mit dem Handy irgendwo auf der Straße macht, und schreibt dann darunter: Installation. Auf den ersten Blick weiß man nie: Skulptur oder Baustelle? Es kann sein, dass die Ergebnisse gleich aussehen. Der Unterschied ist die Intention dahinter – das eine ist Zufall, das andere ist gedacht, entworfen, komponiert. Ungefähr so verhält es sich auch mit dem zufälligen Geräusch und dem gestalteten Sound.
Kann man den Fahrsound auch leiser oder lauter drehen?
Theoretisch ja, in Europa lässt er sich derzeit auch noch per Knopfdruck ausschalten, wenn Stille gewünscht ist, in den USA nicht, wegen der gesetzlichen Vorgaben. Generell muss ein Fahrzeug deutlich hörbar sein. Auch im Innenraum gibt es Unterschiede: In Europa ist es wichtig, als Fahrer möglichst viel vom Motor zu hören, in China will man davon so wenig wie möglich mitbekommen.
Wenn Sie den Sound eines Autos gestalten: Was muss man sich darunter vorstellen?
Ich versuche, mir jedes Objekt wie einen Menschen vorzustellen. Wie ist er, welche Eigenschaften hat er, wie spricht er? Unzählige Kleinigkeiten, aus denen sich der Charakter bildet. Dafür versuche ich, eine klangliche Entsprechung zu finden. Es ist nicht leicht, das zu beschreiben.
Wie geht das? Was machen Sie, wenn Sie morgens ins Büro kommen?
In meiner Abteilung arbeiten etwa 200 Ingenieure. Wir analysieren jedes einzelne Geräusch, das beim Fahren entsteht, schlüsseln es in seine Bestandteile auf und überlegen dann: Welche Bestandteile wollen wir verwenden, mit welchem Algorithmus lassen sie sich formen, wie hell, wie schnell, wie rau muss der Sound sein? Manche Klänge bestehen nur aus Teilen schon existierender Geräusche, andere sind komplett neu entworfen. Das alles setzen wir dann am Computer zusammen, bis der Gesamtklang des Fahrzeugs feststeht. Und wir gestalten die Hinweis- und Warntöne für den Fahrer. Wie dringlich muss ein Signal sein – und wie nervtötend? Wie viele Impulse gibt es, wie schnell folgen sie aufeinander, wie laut, in welchem Frequenzbereich? Ein nicht angelegter Gurt ist dringender als ein leerer Scheibenwischwassertank, aber nicht so dringend wie eine offene Beifahrertür.
Wie kamen Sie mit dem Thema in Berührung?
Ich habe mit 21 mein Klavierdiplom gemacht, ich wollte Musiker werden. Mit 19 fing ich an, Ingenieurswissenschaften zu studieren ich wollte auf dem Konzertpodium sitzen, ich wollte aber auch über Festkörperphysik etwas sagen können. Mein Klavierprofessor kam aus der Schule von Franz Liszt, die Bedeutung von Virtuosität, die Hingabe für Feinheiten, Stunde um Stunde an einem winzigen Detail zu arbeiten, stundenlang an einem Takt, verrückt, wenn man sich fragt: Warum eigentlich? Ich bin dann nach New York gegangen, um Künstler zu werden. Dort ist BMW auf mich zugekommen, weil sie einen Akustiker suchten. Zuerst habe ich abgesagt, ich dachte, Auto-Sounds wären langweilig. Dann habe ich angefangen, darüber nachzudenken – und gemerkt, dass ich mich getäuscht habe.
Wie muss ein Auto klingen, damit es wie ein Auto klingt?
Natürlich ist uns klar, dass die Menschen Fahrzeuge mit dem Klang des Verbrennungsmotors assoziieren, deshalb benutzen wir zur Wiedererkennung immer auch ein paar Komponenten davon. Aber E-Autos müssen nicht wie herkömmliche Fahrzeuge klingen – die Motoren haben eine komplett andere Technik, und die ersten Autos vor 100 Jahren klangen auch nicht wie Pferde, nur weil die Leute daran gewöhnt waren. Anfangs hatten wir uns daran orientiert, wie Raumschiffe in Science-Fiction-Filmen klingen: schwerelos, und zugleich massiv und kraftvoll. Zurzeit erfinden wir aber eine völlig neue Klangwelt, die harmonischer klingt, eleganter und umarmender. Und hier sehen Sie übrigens ein großes Problem meiner Arbeit: Es ist extrem schwer, präzise über Klänge zu sprechen.
Warum ist es überhaupt so wichtig, wie sich ein Auto anhört, wenn der Sound sowieso im Verkehrslärm untergeht?
Der Klang eines Fahrzeugs ist so wichtig wie die menschliche Stimme – er überträgt Informationen und vor allem Emotionen. Schnelligkeit, Beschleunigung, Dynamik, Eleganz, Komfort – das vermittelt sich alles in erster Linie über den Sound. Andere Sounds müssen dagegen sofort nerven, nur so funktionieren Warntöne. Ein einfaches Pfeifen nützt nichts, wenn es kein Gefühl von Dringlichkeit auslöst.
Wie lösen Sie in mir genau das Gefühl aus, das Sie brauchen?
Jeder von uns fühlt anders, aber es gibt eine Schnittmenge. Schon ein einfaches Klopfen reicht, um das zu zeigen. Ich habe bei einem Forschungsprojekt in Stockholm Probanden gebeten, mit einer bestimmten emotionalen Haltung auf ein Stück Holz zu klopfen – freudig, traurig, ängstlich und so weiter. Das habe ich aufgenommen und anderen Probanden vorgespielt, und die Emotion hat sich in jedem Fall sofort erschlossen, nur aus der Lautstärke und der Geschwindigkeit, mit der die Impulse aufeinanderfolgen. Das ist fast schon primitiv. Und da reden wir noch nicht über Tonhöhen und Harmonien.
Gibt es, wenn es um Geräusche oder Musik geht, eine Art Vokabelheft für Gefühle?
Schon im 16. und 17. Jahrhundert gab es die ersten Studien darüber, welchen emotionalen Einfluss zum Beispiel die Tonarten haben. Ich kann sehr genau vorhersagen, welche Wirkung ein D-Dur-Akkord hat.
Und zwar?
Sonnenaufgang. Aber nicht romantisch, sondern als Feier der Macht, die da kommt. Das Finale der 9. Sinfonie von Beethoven steht in D-Dur oder auch das berühmte Tschaikowski-Violinkonzert. Der Himmel hat ein Spektrum von Orange bis Blau, dann kommt die Sonne mit Kraft und Erhabenheit, und etwas Neues beginnt – das kann D-Dur schaffen.
Wenn Sie das alles so genau wissen: Haben Klänge auf Sie selbst noch die Wirkung, von der Sie sprechen?
Ja, natürlich. Als ich klein war, wohnten wir in Italien in einem Haus am Meer, man konnte jedes Auto schon von fern hören. Mein Vater hatte einen alten Diesel, der Antrieb war ein bisschen kaputt, und meine Mutter und ich saßen auf der Terrasse, warteten und konnten bei jedem nahenden Auto sofort sagen, das ist er, oder eben auch nicht. Dieser Sound ist in meinem Kopf unauslöschlich gespeichert. Heute muss ich nur an das Geräusch denken, und mir kommen die Tränen. Das sind genau die Reize, mit denen ich arbeite. Ich will die Zuhörer auf eine andere Ebene bringen.
Wie meinen Sie das?
Sound kann einen Menschen aus dem Hier und Jetzt tragen – oder schlagartig zurückholen. Musik kann einen Menschen zum Weinen bringen. Ich habe mich oft gefragt, wie das sein kann. Weinen ist die Übersetzung eines emotionalen Zustands in einen materiellen Partikel. Ich habe dazu auch ein Stück komponiert: Reverse Flow of a Melting Tear. Die Träne kommt aus dem Auge, rinnt auf die Wange, alles klar. Aber wo ist sie vorher? Da drin, was ist da? Wie hat sich das entwickelt, wie haben Kopf und Gefühle eine materielle Skulptur entwickelt, die eine Träne geworden ist? Das hat mich immer fasziniert. Und das will ich schaffen, auf diesen Schatz will ich zugreifen: Ich will einen Sound gestalten, der mich vielleicht nicht zum Weinen bringt, aber doch emotional so berührt, dass mein Körper reagiert. Es klappt nicht immer, denn natürlich sprechen Menschen auf verschiedene Signale an. Aber nur so haben Warntöne eine Wirkung, ein einfaches Piepsen reicht nicht, wenn nicht ein unbehagliches Gefühl davon ausgeht.
Klingt ein bisschen unheimlich.
Man kann das Ganze natürlich auch ins Positive drehen. Wenn Sie morgens mit dem Auto ins Büro fahren und vielleicht schlecht drauf sind, dann will ich, dass Sie beim Drehen des Zündschlüssels auf andere Gedanken kommen. Ich will, dass Sie sich besser fühlen, dynamischer, eleganter. Das läuft unbewusst über das Gehirn. Und wenn Sie das eine Woche lang machen, einen Monat, ein Jahr, dann hat das eine positive Wirkung, das weiß man aus der Musiktherapie. Der Mensch wird geprägt durch den Sound, der ihn umgibt, im Guten wie im Schlechten. Die Ohren sind immer eingeschaltet, man kann sich dagegen nicht wehren. Die Augen kann man schließen, die Ohren nicht.
Foto: Fritz Beck