Hier ruht ein Schatz

Haben Sie schon mal Geld im Wagen verloren? Gut für Frau Wu. Denn ein Großteil unserer Autos wird zum Verschrotten nach China geschafft. Dort lässt die Geschäftsfrau die Eurostücke aus den Ritzen holen - und verkauft sie zum Vorzugspreis weiter.

Europa soll ein schöner Kontinent sein, hat Frau Wu gehört. Sie weiß wenig über die fernen Länder im Westen. Nur, dass die Menschen dort viele Autos besitzen. Und viel Geld. Geld mit schönen, eingravierten Motiven. Adler, Harfen, Schwäne, Eulen. Geld, das den Menschen in Europa oft aus der Tasche fällt, wenn sie Auto fahren. »Mein Glück«, sagt Wu Meihua.

Die Besitzerin eines Supermarkts knallt drei kiloschwere Plastikbeutel auf den Tisch – und es regnet Geld: Hunderte von Ein-Euro-Münzen prasseln aus den Tüten, 600 Stück sind es am Ende, abgezählt. »Im Lager habe ich noch mehr«, sagt Wu stolz. »Viel mehr.«

Foshan. Eine Stadt von sieben Millionen Menschen, mitten im südchinesischen Perlflussdelta, einem großen Industriegürtel mit 42 Millionen Einwohnern. Das Gebiet, in dem Computer, Handys, Kleidung und Spielzeug produziert werden, wird »Fabrik der Welt« genannt – und Foshan ist ihr Schrottplatz.

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Bei flüchtigem Hinschauen wirkt Wu Meihua wie eine gewöhnliche Geschäftsfrau: ein modischer weißer Anorak, das Haar in einem Kurzbob, dreißig Jahre alt, Mutter einer vierjährigen Tochter. Wu betreibt einen Mini-Supermarkt, der zwischen einem Friseursalon und einer Zahnarztpraxis liegt, zieht Zigaretten und Klopapier über die Kasse, sieben Tage in der Woche. Aber unter der Hand führt Wu Meihua ein ungewöhnliches Schattengeschäft: Sie handelt mit aufgelesenen Euromünzen.

Wu Meihua ist nicht ihr echter Name, die Anonymisierung war ihre Bedingung für unser Treffen. Die Münzhändlerin ist vorsichtig, streng genommen gilt das, was sie macht, als Straftat – schwarzer Devisenhandel.

Die Beutel auf dem Tisch hat sie aus einer Kommode hinter der Ablage mit den Shampootuben gekramt. Eine frisch eingetroffene Lieferung, erst gestern Nacht gereinigt. »80-Prozent-Ware«, sagt Wu. So nennen Händler wie sie die beste Qualität auf Lager: Die meisten Münzen sind so gut wie neu, nur manche Euros tragen Grünspan und Schrammen an den Rändern, da hat selbst hartnäckiges Schrubben nicht geholfen.

Wus Angebot ist unschlagbar: Einen Euro bietet sie zum Preis von 6,25 Yuan an, das sind 73 Cent. Einen Beutel mit hundert Ein-Euro-Münzen verkauft sie für 500 Yuan, umgerechnet 58,50 Euro. Wer mehr als 300 Euro ordert, bekommt fünf Prozent Rabatt. Am günstigsten sind 50-Cent-Münzen, da gibt es das Kilo für 28,50 Euro – ein Kilobeutel enthält 130 dieser Münzen: 65 Euro. »Lohnt sich, wenn Sie viel Freigepäck auf dem Flug haben«, sagt Wu. Außerdem bietet Wu noch Zwei-Euro-Münzen im 50er-Pack an – Kostenpunkt: 64,40 Euro. »Mein Bestseller«, sagt sie. Leider gerade ausverkauft.

Wu betreibt ihren Münzhandel seit drei Jahren. Sie stammt aus Hunan, einer Bauernprovinz im armen Landesinneren, ihre Kindheit verbrachte sie zwischen Bambushainen und Reisterrassen. Nach der Schule, mit 18, zog sie mit ihrem Mann, einem städtischen Ordnungshüter, in die Industriestadt Foshan. Wie Millionen andere Wanderarbeiter heuerte sie zunächst in einer Fabrik an. Jahrelang nähte sie am Fließband Volleybälle für den Export. Von ihren Ersparnissen übernahm sie den Mini-Supermarkt. Dann hörte sie von der Sache mit den ausländischen Schrottmünzen. Ein geniales Geschäftsmodell.

Nie habe sie gedacht, sagt Wu, dass sie damit so viel Geld verdienen könne. Der Supermarkt macht inzwischen nur noch einen Bruchteil ihres Einkommens aus. Als Beweis zeigt sie ein mit dem Handy geschossenes Foto ihres geheimen Lagers: In der Mitte eines fensterlosen Raums, bestrahlt von einer nackten Glühbirne, türmen sich verdreckte Münzen zu einem kniehohen Haufen. In Spitzenmonaten, flüstert Wu, verkaufe sie Zehntausende Euro.

Der Geldstrom gelangt auf unscheinbare Art und Weise nach China – im Containermüll. Für Nachschub muss Wu nur ein paar Straßen weiter fahren: Im Süden Foshans liegt eines der größten Recycling-Zentren der Welt. Das Viertel ist die Endstation für Millionen Altwagen aus Übersee. Kilometer um Kilometer reihen sich Hunderte Schrottverwertungsanlagen aneinander. Manche sind Großbetriebe mit der Fläche von mehreren Fußballfeldern, abgeschirmt von Betonmauern und Stacheldraht. Andere Hinterhof-Klitschen, kaum größer als eine Garage. Alle arbeiten nach dem selben Grundprinzip: Aus Schrott mach Geld.

Will die Händlerin Wu Münzen bestellen, ruft sie einen ihrer hier ansässigen Lieferanten an. Jemanden wie Pan Yiguo. Pan ist der Besitzer einer großen Recycling-Fabrik, die sich auf Autoschrott aus Europa spezialisiert hat. Wie viele andere in Foshan hat der Müll westlicher Industrieländer ihn wohlhabend gemacht. Pan, Ende vierzig, fährt Geländewagen und raucht teure Zigaretten, unter seiner Cordjacke wölbt sich ein gemütlicher Bauch. Über welche Kanäle er seine Container bezieht, möchte der Unternehmer nicht verraten. Auch er heißt eigentlich anders. Sein Betrieb liegt am Ende einer staubigen Seitenstraße, neben einem Fluss, in dem eine grüne Brühe fließt. Hinter dem Eisentor ohne Firmenschild geht es zu wie in einem Bergwerk: Bagger, Lkw, Berge aus faustgroßen Metallklumpen. Es ist ohrenbetäubend laut, ein Lärm wie Millionen zerberstende Glasflaschen. »200 Tonnen«, brüllt Pan, »Autos aus Europa!« Er führt in eine offene Halle mit Wellblechdach – seinen Schlachthof. Achtzig Wanderarbeiter kämpfen sich mit Rechen und Schaufeln durch die Überreste von Zündkerzen, Radachsen und Autoradios. Mit Händen, rau und fest wie Leder, sortieren sie die Teile je nach Metallart in Eimer. Aluminium, Kupfer, Zink, Blei, mehr als zehn verschiedene Sorten.

Es ist der letzte Schritt einer langen Verwertungskette. Schrottverwerter in Europa montieren aus den Altwagen wiederverkaufbare Teile wie Felgen, Lichtmaschine und Scheinwerfer. Danach werden die Skelette gepresst und durch haushohe Schreddermühlen gejagt. Die faustgroßen Schrottteile, die die Maschinen ausspucken, transportieren Containerschiffe in Billiglohn-Länder – vor allem nach China, das so viel Altmetall importiert wie kein anderes Land. Die wachstumshungrige Volksrepublik ist arm an eigenen Rohstoffen. Um seine Industrieproduktion steigern zu können, kauft die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt darum jedes Jahr hunderte Millionen Tonnen von Schrottmetall aller Art auf: ausrangierte Autos, verbrauchte Computer, Elektromüll und heruntergewirtschaftete Maschinen. Gerade Autoschrott enthält aber einen meist übersehenen Schatz: die Parkmünzen der ehemaligen Besitzer, die über die Jahre eines Autolebens unter Sitze gekullert und in Fußablagen verschwunden sind. Pan Yiguo, der Recycling-Unternehmer, findet sie.

Es soll Kellerspeicher mit Hundertausenden Euros geben, wie bei Dagobert Duck.

FOSHAN
Die Stadt im Perflussdelta zählt zu den bedeutendsten Wirtschaftsräumen Chinas. Hier liegen sowohl die Sonderverwaltungszonen Hongkong und Macao, als auch die Sonderwirtschaftszone Shenzhen und die Millionenstadt Guangzhou. Shenzhen, Hongkong und Guangzhou gehören zu den acht größten Containerhäfen der Welt.

In seiner namenlosen Schrottfabrik, unter einer Zeltplane neben seinem Büro, hocken fünf Männer an einem Tisch, vor sich einen Haufen Kleingeld, der ihnen bis zum Kinn reicht: Euros, britische Pfund, Dollar, Schweizer Franken, schwedische Kronen, dänische Kronen, überraschend viele D-Mark und französische Francs sowie Kurioses wie Pfand-marken aus belgischen Schwimmbädern. Der Fund der letzten Tage. Wie viel ist das? »Vielleicht 300 Kilo«, sagt der Fabrikboss. Ein funkelnder Schatz sieht anders aus: Die Münzen sind schwarz wie Kohle, sie tragen eine Patina aus Dreck und Rost. Manche sind bis zur Unkenntlichkeit verbogen und zerkratzt.

Nicht alle eignen sich für den Verkauf, sagt Pan mit Bedauern. Die kaputten Münzen will keiner haben. Bei Cent-Beträgen lohne sich die Reinigung nicht. Und die Dollars bestünden aus »miesem Material«: Sie sind zu über neunzig Prozent aus weichem Kupfer. Zudem sind sie einen halben Millimeter dünner als Euros – die Schreddermühlen überleben sie nur selten. Japanische Yen hätten einen zu geringen Nennwert, erklärt Pan. Dann das Zeug aus diesen skandinavischen Ländern: dänische, schwedische, norwegische Kronen – was soll er damit?

Noch vor einigen Jahren, sagt Pan, habe er keine Ahnung gehabt, wohin mit dem ganzen Bargeld. Er ließ es einfach einschmelzen. Auf die Idee, die Münzen wieder in Umlauf zu bringen, soll dann ein Chinese aus Hongkong gekommen sein – genannt: »Der Münzmogul«. In Foshan erzählt man sich bis heute ehrfürchtige Geschichten über den Mann. Der Münzmogul soll damals sämtliche Fundbestände aufgekauft haben, Tausende Kilo Geld. Angeblich hatte er gute Kontakte bei einer Hongkonger Großbank, die ihm halfen, die Münzen containerweise zurück nach Europa zu verschiffen und dort gegen Scheine einzutauschen. In der verschwiegenen Branche zirkulieren viele solcher Anekdoten: Es soll Kellerspeicher mit Hundertausenden Euros geben, wie bei Dagobert Duck. Oft wissen nicht mal Insider, was Wahrheit ist und was Erfindung.

Auch in Shanghai hat es lange einen Münzkönig gegeben. Ihm gelang ein bemerkenswerter Coup: Über Jahre erstand er Ein- und Zwei-Euro-Münzen, welche die Europäische Zentralbank aus dem Verkehr gezogen hatte. Sie sollten eigentlich in China eingeschmolzen werden. Um sie zu entwerten, ließen die Banken in der EU Ring und Kern der Münzen voneinander trennen. Der Shanghaier Münzkönig setzte die Teile einfach wieder zusammen. Der Betrug flog 2011 auf, als seiner Komplizin, einer Lufthansa-Stewardess, am Frankfurter Flughafen der Koffer platzte. Die Polizei bezifferte den Schaden später auf sechs Millionen Euro.

Pans gluckst vor Vergnügen, als er diese Episode erzählt. Dann wird seine Stimme wieder ernst. In Foshan, beteuert er, werde nur noch mit echten Münzen aus dem Schrott gehandelt. Und das sei gefährlich genug: Erst im vergangenen Dezember wurde ein stadtbekannter Privatbankier verhaftet, der mit gebrauchten Dollar-Münzen im Millionenwert dealte, in seiner Garage konfiszierte die Polizei drei Luxusautos.

Andere Schlagzeilen sind ein Glücksfall für das Gewerbe: Im Oktober 2013 nahm die Polizei in Paris zwei chinesische Touristen fest, die eine Hotelrechnung von 140 Euro bar bezahlen wollten, mit Ein-Euro-Münzen. Auf dem Zimmer der jungen Männer fand man 3700 Euro Kleingeld. Der Verdacht: Falschgeld. Doch die Ermittlungen liefen ins Leere: Die Münzen waren echt. Sie stammten aus einer chinesischen Autoschrottanlage, wahrscheinlich aus Foshan.

Seit diese Nachricht im Internet die Runde machte, wollen immer mehr Leute ins Geschäft einsteigen. Pan, der Fabrikboss, kann sich vor Händleranfragen kaum noch retten. An manchen Tagen warten die Interessenten schon morgens vor seinem Eisentor. Für ihn ist der Münzhandel ein profitables Nebengeschäft: Seit die Metallpreise im Zuge der Finanzkrise um ein Drittel gesunken sind, erzielt er mit einem recycelten Kilo Kupfer im Schnitt nur noch fünf Euro. Ein Kilo Euromünzen dagegen kann er in Foshan für 33 Euro verkaufen.

Bevor Pan die Münzen an Händler wie Wu Meihua übergibt, schrubben seine Arbeiter sie mit Zahnpasta und Essig. Bei ihr gehen die vorgesäuberten Münzen in die zweite Phase der Reinigung: Wu beschäftigt eigens zwei Angestellte, die das Kleingeld durch spezielle Münzreiniger schleudern. Anschließend liegt es über Nacht im Laugenbad. Der Aufwand lohnt sich: Bei einem Stückgewicht von 7,5 Gramm erhält Frau Wu 130 Ein-Euro-Münzen für jedes Kilo. Ihr Einkaufspreis liegt bei 25 Cent je Münze. Ihr Verkaufspreis beträgt im Schnitt knapp sechzig Cent. Selbst wenn sie die Münzen abzieht, die Ausschuss sind, bleibt ihr eine Rendite zwischen fünfzig und hundert Prozent – obwohl sogar der Endkunde noch ein Schnäppchen macht. Für alle Beteiligten ein todsicheres Geschäft.

Als Vertriebsweg nutzt Wu das Internet. Wenn die Supermarktbesitzerin gerade keine Kunden bedient, hängt sie über ihrem silbernen Smartphone. So steuert sie ihre Transaktionen auf der Handelsplattform Taobao.com, einer Art chinesischem Ebay. Wu wirbt mit Gratisversand in alle Küstenprovinzen und uneingeschränkter Geld-zurück-Garantie. Die Münzen seien »gut für U-Bahn, Toilettenhäuschen, Schließfächer, Gepäckwagen und Trinkgeld«, heißt es in ihren Angeboten. Die Käufer sind Touristen, die Europa besuchen, Geschäftsreisende und Austauschstudenten. Und Großkunden wie der Reiseleiter, der zweimal im Monat mit einer Gruppe durch Frankreich tourt. Die meisten hinterlassen begeisterte Bewertungen. Die häufigsten Kommentare lauten: »Hätte ich bloß mehr bestellt!!!« Beschwerden gebe es selten, sagt Wu. In den meisten Euro-Staaten sei die »Automaten-Akzeptanz« sehr hoch, sagt sie: Italienische und spanische Maschinen schluckten alles. Nur deutsche Automaten bereiteten gelegentlich Probleme. Für solche Fälle bietet sie an, abgelehnte Münzen nach dem Urlaub wieder zurückzunehmen.

Wu stuft ihre Ware in mehrere Kategorien ab. »80-Prozent-Ware« entspricht dem Erhaltungsgrad, den Münzsammler als »sehr schön« bezeichnen: abgenutzt, aber ohne größere Schäden. »60-Prozent-Ware« nennt Wu Münzen, die Kerben an den Rändern und abgewetzte Prägungen aufweisen. Die »50-Prozent-Ware« sind hoffnungslose Fälle. »Gehen wieder zurück in den Schrott.« Sie hat britische Pfund am liebsten: 24,5 Prozent Zinkanteil, 3,15 Millimeter dick – praktisch unzerstörbar. Schweizer Franken seien hochwertig, aber schwer loszuwerden. Mit Euros macht sie den meisten Umsatz. Wie gut, dass es die Europäische Währungsunion gibt, denke sie häufig.

Für ihre »60-Prozent-Ware« hat Wu einen Stammkunden gefunden, der unter den Münzhändlern Foshans den Spitznamen »der Spanier« trägt: der Besitzer eines chinesischen Restaurants in Madrid, der zweimal im Monat nach China fliegt. Jedes Mal, wenn er sie aufsuche, sagt Wu, packe er mehrere Tausend Euro in seine Koffer, die er als Handgepäck aufgibt. Mit jedem Trip, bei dem er 8000 Euro über die Grenze bringt, macht er abzüglich der Flugtickets knapp 3000 Euro Gewinn. Legale Geldwäsche, wenn man so will: Bargeldsummen unter 10 000 Euro in die EU einzuführen ist legal, und der Umtausch selbst großer Mengen beschädigter Münzen prinzipiell möglich, auch bei der Bundesbank.

Wie viel Geld genau verdient eigentlich sie mit den Münzen? Wu schweigt und lächelt, die Frage ist ihr unangenehm. »Ich bin doch nur ein kleiner Fisch«, sagt sie. Wu hat inzwischen Angst um ihr Geschäft: Auf Taobao.com gibt es immer mehr Mitbewerber, die Preise fallen. Doch Wu, die bis heute mit Mann und Tochter in einer stickigen Kammer über ihrem Supermarkt wohnt, will so lange weitermachen, bis sie sich ihren Traum erfüllen kann: ein eigenes Haus in ihrem Heimatdorf. Deswegen, sagt Wu, spare sie längst jeden Yuan.

Foto: Fritz Beck