Geht schon

Kaum ein Text ist so penibel formuliert wie die deutsche Straßenverkehrsordnung. Doch wie schnell ist eigentlich Schrittgeschwindigkeit?

Die Straßenverkehrsordnung ist ein Text, dem man sich kaum entziehen kann. Sobald man das Haus verlässt, ist man Teil dieses Regelwerks. Man braucht weder Auto noch Fahrrad, um verkehrsrechtlich relevant zu sein, eine Existenz als Fußgänger reicht völlig, um zu einem VT zu werden, wie man als Verkehrsteilnehmer fachlich korrekt abgekürzt wird.

Überhaupt scheint es kaum einen Bereich zu geben, in dem Abkürzungen so verbreitet sind, wie in allem, was mit Straßenverkehr zu tun hat. Soll sich die Hektik des Straßenverkehrs in den Texten des Regelwerks widerspiegeln, in denen die Verfasser offenbar keine Zeit haben, die Wörter verständlich auszuschreiben? Zu Fuß oder im Kfz sollte man jedenfalls die StVO (Straßenverkehrsordnung) nicht mit dem StVG (Straßenverkehrsgesetz) oder gar der StVZO (Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung) verwechseln. Denn wer sich falsch verhält, kann schnell Bekanntschaft mit der BKatV machen, der Bußgeldkatalog-Verordnung.

Umso mehr verwundert es, dass sich zwischen all den technischen Präzisionsvokabeln der Straßenverkehrsordnung ein Begriff findet, der aufgrund seiner rührenden Ungenauigkeit aus dem Rahmen fällt: die Schrittgeschwindigkeit. Sie gilt zum Beispiel auf Spielstraßen, die im Amtsjargon natürlich nicht wirklich so heißen, sondern mit Schild Nummer 325.1 als »verkehrsberuhigter Bereich« ausgewiesen sind. Dort schreibt die Straßenverkehrsordnung vor: »Wer ein Fahrzeug führt, muss mit Schrittgeschwindigkeit fahren.« Dort steht nicht: muss fünf Stundenkilometer fahren oder langsamer als zehn, nein, dort steht: Schrittgeschwindigkeit. Und bei Schritten gibt es große Unterschiede. Usain Bolt läuft knapp 45 Stundenkilometer. Ein Teenager, der mit dem Smartphone Pokémons jagt, bewegt sich eher mit drei km/h vorwärts.

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Laut ADAC tauchte der Begriff Schrittgeschwindigkeit zum ersten Mal im Jahr 1980 in der Straßenverkehrsordnung auf. Damals wurde in Deutschland das blaue Schild eingeführt, auf dem ein Kind mit Fußball vor einem Auto zu sehen ist und das die Autofahrer warnen soll: Achtung, hier dürfen Kinder auch auf der Straße spielen. Gute Idee eigentlich, für manche Straßen die Rollenverteilung umzudrehen – Kinder und Fußgänger sind die Chefs, Autos müssen sich unterordnen und dürfen nur in Schrittgeschwindigkeit fahren. Woran damals niemand gedacht hat: festzulegen, wie schnell so ein Schritt denn nun ist.

»Das Gesetz definiert diesen Begriff komischerweise nicht«, sagt Michael Winter, ein Vertrauensanwalt des Automobilclubs von Deutschland (AvD) und Experte für Verkehrsrecht aus Kornwestheim bei Stuttgart. »Die Auslegung ist Sache der Gerichte.« Und dort unterscheiden sich die Definitionen gewaltig: Das Oberlandesgericht Karlsruhe nennt eine Spanne von vier bis sieben km/h als Richtwert. Ganz anders urteilte das Oberlandesgericht Hamm: »Von Fahrzeugführern wird der Geschwindigkeitsbereich von zehn bis 15 km/h subjektiv noch als Schrittgeschwindigkeit empfunden.« Ist das nicht falsch herum gedacht? Sollte sich Schrittgeschwindigkeit wirklich daran orientieren, welches Tempo Autofahrer als langsam genug empfinden? Der Anwalt Michael Winter findet, dass viele Richter das Schritttempo eher zu hoch ansetzen. Teilweise mit seltsamen Begründungen: Das Amtsgericht Leipzig urteilte 2005, dass die Schrittgeschwindigkeit »nicht auf eine bestimmte Stundenkilometerzahl abgestellt werden kann«, da so langsames Tempo »mittels Tacho nicht zuverlässig messbar wäre«. Der Vorschlag der Richter: Schritttempo muss deutlich unter zwanzig km/h liegen. Der Anwalt Winter findet dieses Argument falsch: »Moderne Tachos oder Navigationsgeräte können auch langsame Geschwindigkeiten noch exakt anzeigen.« Und es zählt schließlich jeder einzelne Stundenkilometer: »Das Gefährdungspotenzial ist bei 15 km/h nun mal deutlich höher als bei sieben km/h.«

Der Duden definiert »Schritt« als das »der Fortbewegung dienendes Versetzen eines Fußes (…) unter gleichzeitiger Verlagerung des gesamten Körpergewichts auf diesen Fuß«. Wie schnell man dabei vorankommt, steht dort nicht. Die meisten Männer schaffen beim Joggen etwa 13 Kilometer pro Stunde, bei Frauen sind es zehn. Und das ist wohlgemerkt der Laufschritt in einem Tempo, das kaum ein Fußgänger erreichen dürfte. Warum gelten vor Gericht dann 15 km/h noch als Schrittgeschwindigkeit?

»Ein Argument orientiert sich am Fahrradfahrer«, sagt der Verkehrsanwalt Michael Winter. »Wenn sie in der Schrittgeschwindigkeit von Fußgängern fahren würden, wäre das ganz schön langsam.« Daraus schließt das Amtsgericht Leipzig: Radfahrer, die im Schritttempo unterwegs wären, werden unsicher und könnten zu schwanken beginnen – wären damit also eine Gefahr für den Verkehr.

Andererseits: Könnten Radfahrer in Spielstraßen nicht einfach schieben? Vor Gericht jedenfalls kann man sich laut ADAC-Sprecher Jürgen Grieving jedenfalls nicht auf das Urteil aus Leipzig berufen, falls man mit 15 km/h in einer Spielstraße geblitzt wird: »Ein anderes Gericht kann zu einem anderen Urteil kommen.« Man wäre bei so einer Verhandlung gerne mal dabei, wenn ein in der Spielstraße geblitzter Autofahrer und ein Richter um die Geschwindigkeit eines Schrittes streiten. Ob da angeboten wird, draußen auf dem Sportplatz mal zu messen, wie schnell der Angeklagte laufen kann?

Was die Debatte um das Schritttempo jedenfalls zeigt: Der Mensch taugt nicht als Bezugsgröße für so streng messbare Dinge wie Geschwindigkeit. Wir sind einfach zu verschieden. Vielleicht liegt es daran, dass Teile unseres Körpers meist nur dann als Vergleichswert hergenommen werden, um Dinge grob zu verdeutlichen. Wer »Pi mal Daumen« sagt, misst wohl kaum nach, welche Länge der Finger hat. Und wenn davon die Rede ist, dass ein Regal »um Haaresbreite« nicht durch die Tür passt, ist es egal, ob man sich auf ein borstiges Teenager- oder ein dünnes Rentnerhaar bezieht. Dass ausgerechnet so ein wichtiges Tempo wie die Geschwindigkeit von Autos in Spielstraßen an einem Schritt festgemacht werden soll, wirkt wie ein rührender Versuch, dem sonst so kühlen Regelwerk einen menschlichen Anstrich zu verpassen. Dabei wäre die Lösung einfach: »Entscheidend ist, dass der Fußgängerverkehr in verkehrsberuhigten Zonen Vorrang hat«, sagt der Verkehrsanwalt Michael Winter. Autos sollten also nur so schnell fahren dürfen, wie ein Fußgänger durchschnittlich gehen kann. Diese Zahl, ob nun vier km/h oder acht km/h, ließe sich einfach in der Straßenverkehrsordnung festlegen. Für Michael Winter wäre es ein Schritt in die richtige Richtung.

Illustration: Zeloot