Warum ist Der Vorleser von Bernhard Schlink so erfolgreich? Liegt es daran, dass es schon ziemlich scharf ist, wenn ein 15-jähriger Junge eine 36-jährige Frau liebt, aber natürlich noch schärfer, wenn die Frau früher KZ-Wärterin war? Liegt es daran, dass der Roman 1995 erschien, also mitten in jenem Kohl’schen Spätherbst, in dem sich alles Erinnern mehr und mehr in Emotionalität verlor, bis der Kanzler selbst sagte, er wisse nicht, ob er in einer Diktatur standhaft geblieben wäre?
Liegt es daran, dass ein Ton dieses Buch durchzieht, den Schlink schon auf den ersten Seiten anschlägt, als es noch um Häuser, Namen, Ausreden geht, ein Satz, der sich ständig wandelnd durch den Roman windet, dieses dauernde »ich weiß nicht«, »ich wusste nicht«, »ich erinnere mich nicht« – eine einlullende selektive Amnesie, die mit Banalitäten beginnt und beim Bösen nicht endet? »Betäubung«, das ist das Wort, das Schlink selbst für diesen Zustand verwendet, in den er seinen jungen Antihelden Michael Berg versetzt, ein passives, selbstzentriertes, narzisstisches Bürschchen, das auch nach Jahren nicht zu einem Mann wird, der handelt, selbst dann nicht, als er seine Geliebte Hanna im Gerichtssaal sieht.
»Ich erschrak. Ich merkte, dass ich Hannas Haft als natürlich und richtig empfunden hatte. Nicht wegen der Anklage, der Schwere des Vorwurfs und der Stärke des Verdachts, wovon ich noch gar nichts Genaues wusste, sondern weil sie in der Zelle raus aus meiner Welt, raus aus meinem Leben war.« Nicht um Schuld geht es Schlink, sondern um Scham. Nicht ums Verurteilen, sondern ums Verstehen. Nicht um das Verbrechen, sondern ums Verlassenwerden.
Schlinks Trick und trügerischer Triumph ist es, dass er die Liebe und die Lüge nicht gegenüberstellt, sondern sie in eine seltsame Verbindung bringt, bei der es am Ende egal ist, ob jemand eines Morgens nach dem Sex einfach verschwunden ist oder ob jemand Häftlinge in eine Kirche sperrt, in der sie dann elendig verbrennen. Schlimm ist beides.
»Was sollte und soll meine Generation der Nachlebenden eigentlich mit den Informationen über die Furchtbarkeit der Vernichtung der Juden anfangen?«, fragt Schlinks Erzähler. Ja, was eigentlich? Und warum wird der Richter wie ein Trottel hingestellt, weil er nur eine läppische Antwort weiß, als Hanna ihn im Prozess fragt: »Was hätten Sie denn gemacht?« Und warum wird da die Routine der Prozessbeobachter verglichen mit dem »KZ-Häftling, der Monat für Monat überlebt und sich gewöhnt hat und das Entsetzen der neu Ankommenden gleichmütig registriert«?
Hier wird dauernd moralische Argumentation gegen ethische Ambiguität gesetzt und Genauigkeit gegen Unschärfe – und je länger das Buch dauert, desto verstörender wird, dass der Jurist Schlink immer dort präzise ist, wo es um Natur, Farben, das Leben geht, und dass er sich immer dort dem Leser verweigert, wo es um das Recht, die Wahrheit, den Tod geht.
»Auch wenn ich mir die Gerichtsverhandlung vergegenwärtige, fällt mir nicht ein, was wir wissenschaftlich bearbeiten wollten«, schreibt Schlink. An die Sonntage erinnert er sich dagegen sehr gut und seitenlang. An das »von Woche zu Woche sattere Grün und die Rheinebene mal im Dunst der Hitze, mal hinter Regenschleiern und mal unter Gewitterwolken«, er riecht die Beeren und die Blumen. In der Romantik findet er wie so viele deutsche Helden die Rettung. Und hier löst er auch Hannas Geheimnis, das eben nicht darin besteht, ob sie die Taten begangen hat oder nicht – sondern dass sie Analphabetin ist.
Erzählerisch ist dieser Clou merkwürdig dünn. Moralisch ist er problematisch, weil er das Böse an die Frage nach der Bildung knüpft, die doch die Verbrechen verhindert hätte: Das »bildungsbürgerliche Urvertrauen«, von dem Schlink spricht, ist nicht mehr als ein Entschuldungsklischee. »Auch das Gericht konnte nicht Rechenschaft von mir fordern«, sagt Hanna am Ende ihres Lebens, und das ist dann schon Entschuldigungskitsch: »Aber die Toten können es. Sie verstehen.«
(Foto: ddp)