Als Helmut Schmidt noch in jenem historischen Zwischen- oder Dämmerreich lebte, in dem die meisten ehemaligen Bundeskanzler stranden, und noch nicht mit seinem Buch auf der Bestsellerliste war und mit seinem Gesicht zum Geburtstagsgruß auf dem Spiegel, als er also noch ein oft misanthropisch wirkender Mann war, der zu viel rauchte, und noch nicht der Pater patriae von heute, da konnte man an ein paar Sätzen ablesen, unter was für einer großen Spannung dieses Leben immer gestanden haben musste.
»Ich möchte, dass die Fakten bekannt und moralisch bewertet werden«, sagte Schmidt zu Beginn der 1990er-Jahre, es ging damals um die Rolle, die die Wehrmacht bei den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg spielte, und Schmidt war ja Offizier dieser Wehrmacht gewesen. »Aber man schneidet sich selber den Erfolg ab, wenn man zunächst einmal pauschal 19 Millionen beleidigt oder die Kinder von 19 Millionen glauben lässt, ihre Eltern seien die Schuldigen und man selber sei nun aufgeklärt, moralisch in Ordnung und wäre, hätte man damals gelebt, Widerstandskämpfer geworden.« Das ist 15 Jahre her, und die aggressive, autoritäre Art, mit der Helmut Schmidt versuchte, die historische Neugier der nachkommenden Generationen in ihre Schranken zu weisen, ist heute wohl nicht mehr ganz so schneidend und verletzend, wie sie es damals war. Es ist eben einiges passiert in diesen 15 Jahren zum Beispiel wird Schmidt heute genau für diese aggressive, autoritäre Art geschätzt, nur dass »autoritär« jetzt mit »Autorität« übersetzt wird. Schmidt passt mit seiner unsentimentalen Härte und seiner immer recht herrischen Haltung perfekt in unsere wackelige Zeit und zu einer Generation, die der Ironie abgeschworen hat und nun, weich und sympathisch, wie sie ist, etwas verloren im Wind steht. Es ist genau diese Härte, in der viele Halt finden wollen.
Helmut Schmidt ist damit die Antithese zu fast allem, was diese Zeit ausmacht, und genau dafür wird er bewundert meistens gar nicht für das, was er genau sagt oder tut, sondern einfach dafür, dass er etwas anderes sagt und tut. Schmidt, der Studentenverächter, ist zu einer Art Ein-Mann-APO geworden. Er raucht, wo er nicht darf, er sagt, was er denkt, und dass das schon als bewundernswert gilt, sagt einiges über unser Land aus. Eine Weile war es nur diese störrische schlechte Laune, die ihn, bei all der sonst so grassierenden guten Laune, sympathisch wirken ließ. Aber je mehr sich Deutschland in den weltweiten Krisen verstrickte, desto mehr wuchs der Ruhm des Helmut Schmidt.
Der ist zwar meistens überraschend inhaltsleer in dem, was er sagt. Aber er ist eben der Kanzler der Krise, der Jahre der Angst, er hat all das schon erlebt, was uns gerade zustößt, Ölkrise, Wirtschaftskrise, Terrorkrise, da wirkt es schon beruhigend, wenn er nur seinen Schnupftabak zückt.
Es ist nicht Helmut Kohl, der Erfolgskanzler, der Wohlstandskanzler, der Einheitskanzler, der jetzt wieder eine größere Rolle spielt. Es ist der Kanzler der harten Zeiten, der unangenehmen Entscheidungen, der gerade die späte Liebe der Deutschen erfährt. Schmidt, der Notkanzler oder warum sonst erinnert selbst Angela Merkel an eine Sturmflut, die fast 50 Jahre zurückliegt? Schmidt, der Arbeitslosenkanzler, der weiß, wie sich die Zuckungen der Weltwirtschaft auswirken. Schmidt, der Kanzler der Eskalation und des starken Staates, der mit Terroristen gerungen hat, unklar ist, um welchen Preis. Er ist das historische Gesicht der Krise.
Und so ist es auch weniger ein Unbehagen über die gegenwärtigen Berliner Politiklemuren, das die Schmidt-Verehrung erklärt auch wenn das eine bequeme Art wäre, diese entscheidungsschwachen Krisenverwalter indirekt bloßzustellen. Schmidts Ruhm hat einen tieferen Grund. Schmidt ist so etwas wie der Clint Eastwood der deutschen Politik. Ein grummeliger alter Mann, der allein dadurch trösten kann, dass er grummelt. Schmidt spielt dabei die Rolle eines lange abwesenden Familienmitglieds. Er ist im Grunde der Großvater, den viele Deutsche gern gehabt hätten, aber nie hatten, weil er im Krieg gefallen ist.
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