Der Jackpot ist geknackt, die allgemeine Euphorie vorüber – doch was in den Tagen vor der Ausschüttung des Gewinns wieder einmal deutlich wurde, sind die Regeln, wie über das Lottospielen geredet wird.
Es scheint nur zwei Formen des Sprechens über Lotto zu geben. Die eine steht ganz im Zeichen der Erwartung, des Traums, die Millionen tatsächlich zu gewinnen. Zeitungen bilden die gewaltige Menge Geld ab, die sich im Jackpot befindet; zufällig interviewte Passanten erzählen im Fernsehen, was sie sich von dem Gewinn als Erstes leisten würden; und auch am eigenen Arbeitsplatz ist das Thema allgegenwärtig: Am Telefon schärft der Schreibtischnachbar noch einmal seiner Frau ein, die Abgabe des Scheins ja nicht zu vergessen, und sogar diejenigen laufen in letzter Minute zum Kiosk, die in ihrem Leben noch nie Lotto gespielt haben.
Die zweite Erzählform hat mit der immer gleichen Schreckensgeschichte der Gewinner zu tun. Es gibt unzählige Fernsehdokumentationen und Zeitungsporträts über sie: Menschen, die durch den Millionengewinn von einem Moment auf den anderen in ein neues Leben geschleudert werden, die mit dem Geldsegen nicht umgehen können und ihrem Verschwendungsrausch erliegen. Immer sind diese Geschichten mit einer Lehre verbunden: dass das ganze Geld nicht glücklich mache, weil es die Gewinner aus ihrem gewachsenen Leben hinauskatapultiere. Irgendwann stünden sie allein und verschuldet da. Im günstigsten Fall würden sie sich langsam besinnen und ihr bescheidenes Leben von früher wiederaufbauen.
Der Traum und die Ernüchterung: Nur in diesen beiden Modi kann vom Lottospielen die Rede sein. Dass der Traum einfach eingelöst wird, dass die Millionen wirklich ein erfülltes, sorgenfreies Leben in Wohlstand ermöglichen – das wird einigen Lottomillionären vermutlich gelungen sein, aber die Öffentlichkeit weiß nichts davon. Denn der Genuss des augenblicklichen Reichtums ist an größte Diskretion gekoppelt. In dem Moment, da man die langjährigen Freunde, das gewohnte Umfeld einweiht, wird das Leben schwer, auch wenn der Gewinner sonst in aller Vernunft mit seinem Reichtum haushält. Nicht umsonst lautet der wichtigste Ratschlag, den Psychologen den Gewinnern geben: »Stillschweigen bewahren!« Ein hoher Lottogewinn ermöglicht alles, nur nicht die Aufrechterhaltung des früheren Lebens.
Den Massen von Spielern, die sich Anfang letzter Woche an den Annahmestellen drängten, konnten all diese Geschichten nichts anhaben. Allerorten kam es zu Gesprächen – zwischen Freunden, Kollegen oder Fremden in der Warteschlange –, in denen offenbart wurde, was man alles im Falle des Gewinns tun würde: sofort kündigen, ein Haus in der Karibik bauen, alles stehen und liegen lassen. Die ganze Stadt war erfüllt von Träumereien über ein anderes Leben. Wenn man davon ausgeht, dass jeder Spieler um die konkreten Gefährdungen eines hohen Lottogewinns weiß – könnte das nicht bedeuten, dass die Aussicht auf den realen Triumph für die meisten gar nicht das eigentliche Motiv ist, Lotto zu spielen? Wer den kollektiven Taumel mitansah, hatte eher das Gefühl, dass es in erster Linie darum ging, in einen vielstimmigen Chor der Sehnsüchtigen einzustimmen. Der Lotto-Jackpot gab jedermann die Lizenz, einmal laut zu fantasieren und sich über die Routine des eigenen Alltagslebens zu erheben.
Vielleicht ist Lotto in erster Linie ein Sprachspiel, eine Art Karneval der Biografien, in dem sich jeder verkleiden, die Maske einer anderen Lebensgeschichte anlegen darf. Sobald der Jackpot ab-geräumt ist, müssen die Masken wieder fallen – so wie vor neun Tagen, an jenem Aschermittwoch, der die tollen Tage des Glücks abrupt beendete. Vor dem realen Eintreten des Versprechens würden die meisten Teilnehmer bei genauerem Bedenken ohnehin zurückschrecken. Man spielt Lotto, um nicht zu gewinnen.