Sollte jemand noch Zweifel haben, wie schlimm die Lage wirklich ist, dann reicht inzwischen ein Hinweis auf den Bundespräsidenten: Die Zukunft unserer Kinder steht auf dem Spiel, die föderale Ordnung ist überholt, die Haushalte sind in einer nie da gewesenen, kritischen Lage – alles wahr, amtlich beglaubigt, von höchster Stelle bestätigt. »In dieser ernsten Situation braucht unser Land eine Regierung, die ihre Ziele mit Stetigkeit und Nachdruck verfolgen kann«, sagt Köhler. Regieren, ganz klar, reicht da nicht mehr – das hieße ja Herumeiern, Streiten, Durchwursteln wie bisher. Nein, wir brauchen Politik »aus einem Guss«, mit »möglichst viel Macht« (Die Zeit), jetzt muss durchregiert werden, und laut einer Studie der Universität Leipzig wünschen sich bereits 16,7 Prozent der Deutschen einen »Führer, der Deutschland zum Wohle aller mit harter Hand regiert«. In solcher Lage sind wir nicht zimperlich, das ist bekannt – mit Handkuss würden wir jeden nehmen, der es noch wagt, sich als »neuer starker Mann« zu präsentieren. Nur ist in dieser Richtung eben nichts im Angebot. Wirklich gar nichts. Nicht einmal, anders als in früheren Notstandszeiten, ein gescheiterter Kunstmaler aus Österreich. Der Starke-Mann-Sensor sucht und sucht, er stößt ins Leere, er spielt verrückt, und schließlich findet er: Angela Merkel. Nach einer kurzen Schrecksekunde schlägt der Blitz der Erleuchtung ein: Na klar, wie sollte es anders sein? Denn plötzlich fällt uns auf, dass der starke Mann auch sonst – in Filmen, Bestsellern, Popmythen, in den großen Erzählungen der Gegenwart – überhaupt nicht mehr zu finden ist. Wann wären wir zuletzt einer Männerfigur begegnet, die alles konnte und alles wusste, souverän die richtigen Entscheidungen traf, keine wirklichen Schwächen kannte und nie von Zweifeln geplagt war? Ganz recht, so etwas gibt es nicht mehr. Am nächsten käme vielleicht noch James Bond, aber auch der ist nur eine Parodie, den gönnen sich die Männer noch als kleines, etwas peinliches Vergnügen am Rande. Wie anders die starke Frau! Wer starke Frauen ohne Fehl und Tadel und dramaturgische Problemzonen sucht, braucht nur den Fernseher anzumachen. Man findet: das Gesamtwerk von Uschi Glas seit zirka 1980, jede Menge Veronica-Ferres- und Ruth-Maria-Kubitschek-Melodramen, die gütige Resolutheit der späten Maria Schell, die resolute Güte der mittleren Gaby Dohm, die geradezu diktatorische Autorität der Inge Meysel, Gott hab sie selig, und so fort. Und anders als bei den Männern gilt hier orgiastische Selbstbestätigung, hemmungsloses Auf-die-Schulter-Klopfen, behagliches Besserwissen und aufopferungsvolles Gutmenschentum nicht etwa als anrüchig und künstlerisch minderwertig, nein: Starke Frauen haben eine Mission, starke Frauen sind politisch wertvoll und gewinnen Kulturpreise, starke Frauen stehen wie Felsen in der Mitte der Gesellschaft, starke Frauen werden geliebt oder, was Männer betrifft, zumindest klaglos respektiert.In diesen mächtigen Schwesterorden tritt Angela Merkel nun ein und damit erübrigen sich eigentlich alle Fragen nach der Rolle, die ihr von nun an zugedacht ist. Nein, es ist nicht die Aschenputtel-Figur der grauen Maus, die aus der Kälte kam, und es ist auch nicht die eiserne Lady des entfesselten Kapitalismus. Sollte sie Kanzlerin werden, dann trifft sie auf ein real von Männern dominiertes, in seinen Fantasien aber längst matriarchalisch geprägtes Land. Mit anderen Worten: Sie muss, wie ihre Kolleginnen aus dem Fernsehen, einfach nur da sein, gütig blicken und schlichtweg das Selbstverständliche tun – hier jemanden trösten, dort jemanden pädagogisch zurechtweisen, milde über die Eskapaden der Männer lächeln, die angesichts ihrer Ruhe automatisch zu heillosen Hallodris schrumpfen, das Chaos der Welt an ihrem mütterlichen Busen abprallen lassen und tagaus, tagein, Jahr um Jahr, ein einziges Gefühl vermitteln: dass alles am Ende, zwangsläufig und unausweichlich, irgendwie gut wird. Sollte jemand noch Zweifel haben, ob dieses Land zu retten ist – dann reicht in Zukunft ein Blick auf diese Frau.