Verzichten

Verzichten ist sicher die Tugend der Stunde.Arbeitnehmer üben den Lohnverzicht, Rentner ertragen Nullrunden, und wenn es nach Franz Müntefering geht, werden selbst Finanzinvestoren und andere Heuschrecken demnächst auf ihre Gewinne verzichten müssen. Verzichten ist wie Fasten, die Folgen sind eigentlich nur positiv: Es macht schlanker, gesünder und beweglicher – wer dranbleibt, schaut bald genauso scharf geschnitten in die Welt wie Müntefering selbst. Es baut schädliche Rückstände ab und bricht verkrustete Strukturen auf, beim Einzelnen genauso wie bei ganzen Volkswirtschaften. Verzichten macht glücklich und innerlich reich – und inmitten des allgemeinen Verzichts ist das gute alte Abkassieren verdammt schwer geworden. Eine letzte Möglichkeit besteht darin, aber das nur nebenbei, leidenschaftlich über den Verzicht zu schreiben – wie Alexander von Schönburg in seinem Bestseller von der Kunst des stilvollen Verarmens.Die Idee dahinter ist einfach und passt zur allgemeinen christlichen Wiedererweckung: Wahrer Reichtum bedeutet, von materiellen Dingen unabhängig zu sein, der Verzicht ist die elegante, stilsichere und zudem Geld sparende Alternative zum Konsumwahn. Bevor diese Bewegung allerdings weiter um sich greift, muss auch einmal vor den Gefahren dieses Prinzips gewarnt werden: Als Erstes gibt es da einen Bumerangeffekt, der ungefähr so funktioniert wie bei Sex und Katholizismus. Man hört die Botschaft, schwört Keuschheit – und spürt, wird man schließlich doch wieder sündig, eine bisher nie gekannte Lust. Ein simples Beispiel: Verzichtsprediger verdammen gern den »Starbucks«-Frappuccino mit Karamellgeschmack und Schokostreuseln. Wer braucht das schon, wenn die Idee nur war, eine Tasse Kaffee zu trinken? Man fasst den Entschluss, zu echten und unvergänglichen Werten wie schwarz, stark und säurehaltig zurückzukehren – und fühlt sich frei. Gleichzeitig aber zieht es die Füße doch magisch zu jeder »Starbucks«-Filiale, lockt der Sirenengesang der Cappuccino-Maschinen, und ah, verdammt – noch nie hat ein »Grande Latte« so fantastisch geschmeckt.Verzichten zeugt, das darf man nicht verschweigen, auch nicht immer von Großmut und Bescheidenheit. Als Urform des Verzichts kennen unsere Parlamente die Möglichkeit, sich der Stimme zu enthalten. Der unbekannte Kieler Politiker, der sich kürzlich in solch nobler Enthaltsamkeit übte, zog damit allerdings nicht etwa Res-pekt, sondern die übelsten Verwünschungen und sogar Mordgedanken auf sich – fragen Sie nur mal Heide Simonis, die seinetwegen ihren Job verlor. Genauso ist demonstrativ geübter Verzicht, der Bescheidenheit signalisieren soll, oft nur eine Machtstrategie. Vor diesem Hintergrund muss der letzte Wille des Papstes gesehen werden, in die Erde unter dem Petersdom versenkt zu werden. Die simple Steinplatte, die nun sein Grab bedeckt, erscheint inmitten der prächtigen Sarkophage seiner Vorgänger als besonders trickreiches Mittel, um selbst im Jenseits noch besondere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.Zum Schluss bittet der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels ausdrücklich darum, noch einmal vor der dunklen Seite des Verzichts zu warnen: Er ist nämlich weiß Gott kein neues Phänomen. Wir verzichten inzwischen so gut, dass die Umsätze des Einzelhandels nun schon im vierten Jahr in Folge sinken. Jeden Euro, den wir nicht ausgeben, entziehen wir damit der Binnennachfrage und dem Kreislauf der Volkswirtschaft, wo er eigentlich dringend gebraucht würde. Die Tatsache, dass wir gleichzeitig Exportweltmeister sind, zeigt nur eins: In Wahrheit leben wir längst auf Kosten des Auslands, wo der Verzicht, Gott sei’s gedankt, noch nicht so populär ist wie bei uns. So verwandelt sich ein einfaches und beruhigendes Prinzip am Ende doch wieder in ein typisch deutsches Problem, sprich: in ein undurchschaubares Kuddelmuddel. Was sollen wir tun? Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Am besten verzichten wir darauf, uns weiter darüber den Kopf zu zerbrechen – und wurschteln, wie bisher, mehr so gedankenlos vor uns hin.