Es ist ein unlesbares Buch. Und das zunächst nicht aus inhaltlichen Erwägungen, sondern wegen seiner erstaunlich schlampigen Komposition. Sarrazin feuert ein gut 400 Seiten andauerndes Stakkato desselben bescheidenen Zahlenmaterials ab; manche Statistiken wiederholen sich im Lauf des Buches über zehn Mal. Er schreibt Sätze, die im exakten Wortlaut drei Seiten später noch einmal vorkommen; die englischsprachigen Zitate strotzen vor Fehlern, jedes »its« wird zum »it’s«, genauso wie auch die Namen der herbeizitierten Wissenschaftler (wie viele Patzer erträgt der Name »Claude Lévi-Strauss«?) In einem PISA-Test für Sachbücher läge Deutschland schafft sich ab ungefähr auf dem Platz von Bremen, was seine Lesbarkeit und die Sorgfältigkeit des Lektorats betrifft.
Dieses Buch ist ein wucherndes Gebilde: in seiner Fehlerhaftigkeit überraschend bildungsfern, in seiner Dickleibigkeit fast adipös, dabei allerdings so fortpflanzungsfreudig, dass der Argumentationskeim eines Kurzreferats zu einem Riesenwälzer angewachsen ist. Nimmt man noch die Perspektive des Erzählers hinzu, die es an Verengung mit dem Augenschlitz einer Burka lässig aufnehmen kann, gleicht Thilo Sarrazins Buch eigentlich exakt seinem Feindbild: ein übergewichtiger, fertiler Religionsfanatiker.
Doch das Rätsel liegt nicht darin, warum ein solches Werk geschrieben wird – es erscheint viel Gewäsch –, sondern warum es seit zehn Tagen mit solcher Vehemenz als Debattenstifter in Erscheinung tritt. Hat es das schon einmal gegeben, dass die beiden Leitmedien der Nachrichtenproduktion, die Bild-Zeitung und ihr seriös wirkender Zwillingsbruder, der Spiegel, in ganzen Artikelserien dasselbe Buch vorstellen?
Der Effekt dieser konzertierten Aktion ist deutlich: Deutschland schafft sich ab stand schon vor dem Erscheinungstermin auf Platz eins in der Amazon-Verkaufsliste. Ein Buch prägt also die gegenwärtige Diskussion, das in Vokabular und Argumentation nahtlos an die rassenbiologischen Standardwerke der Zeit um 1900 anschließt. Man müsste in den Traktaten eines Alfred Ploetz, Erfinder des Wortes »Rassenhygiene«, nur das Wort »slawisch« durch »muslimisch« und »Rasse« durch »Glauben« ersetzen und hätte dieselben Hypothesen.
Sarrazin begründet gewissermaßen die neue Disziplin der Religionshygiene. Wobei er große Mühe darauf verwendet, die historische Blaupause seines Buchs nur bis zu jener Grenze aufzudecken, an der sie für die meisten Leser unkenntlich bleibt. Seit 70 Jahren diskreditierte Schlagwörter wie »Eugenik« etwa kommen kein einziges Mal vor. Der seltene und daher ungefährdete Gegenbegriff der »Dysgenik« fällt dagegen ständig, in dem Zusammenhang, dass die ungehinderte Fortpflanzung muslimischer Einwanderer zur Schädigung des deutschen Erbguts führt.
Es gäbe eigentlich nur eine angemessene Reaktion auf Deutschland schafft sich ab: Schweigen. Dass das genaue Gegenteil der Fall ist, zeugt von jener befremdlichen Debattenkultur in Deutschland, die für Apokalyptiker der Bevölkerungsentwicklung wieder ein besonders offenes Ohr hat. Der Dämon der Demografie ist eine sichere Bank bei der Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit. Sogar wenn man sich derart massiv auf den wissenschaftlich legitimierten Rassismus stützt wie Thilo Sarrazin.