Seltsamerweise erzeugt dieser Anblick heute nur noch bei Hotelgästen Pawlow'sche Reflexe.
Es gab eine Zeit, da war geräucherter Lachs etwas ganz Feines. Etwas Besonderes, das es zu besonderen Gelegenheiten gab. Zum Beispiel als Häppchen, auf einem Toastschnittchen, mit einem Klecks Meerrettich, mit Kapern und einem Stückchen Zitrone garniert, vor dem Weihnachtsessen in der Familie. Oder zum Überraschungs-Champagnerfrühstück. In den späten Achtzigern, frühen Neunzigern hatte Lachs noch diesen Oha!-Effekt. Genau wie dreieckige Fenster. Jetzt nicht mehr. Heute denkt niemand, der sich ein Haus baut, ein dreieckiges Fenster komme total frech im Bad, und es kauft sich auch niemand mehr geräucherten Lachs.
Aber in Hotels, da gibt es Lachs. Täglich auf dem Frühstücksbuffet. Ob Ein- oder Fünf-Sterne-Hotel: Auf dem Frühstücksbuffet liegt Lachs. Neben Käsescheiben, deren Ränder sich langsam rollen, und Fruchtsalat, in dem nur die bräunlichen Apfelstückchen nicht aus der Dose kommen: Tranchen von geräuchertem Lachs. Und die Hotelgäste schaufeln diesen Lachs auf ihre Teller und dann in sich rein.
Geräucherter Lachs gehört in die wunderliche Reihe von Lebensmitteln, die nur genossen werden, wenn sie irgendwo inbegriffen sind – wie der Tomatensaft im Flugzeug oder die Erdnüsse in der Bar. Das Tomatensaft-Phänomen ist inzwischen zumindest so halb erklärt: Durch den niedrigen Luftdruck verändert sich die Geschmacksempfindung, und so schmeckt Tomatensaft im Flieger plötzlich fruchtig-süß, während er auf dem Boden oft als »muffig« beschrieben wird. Offen bleibt, warum man sich überhaupt Tomatensaft im Flugzeug bestellt, wenn man Tomatensaft am Boden doch nicht mag.
Die Erdnüsse wiederum werden einfach gegessen, weil sie rumstehen, und rumstehen tun sie, weil sie billig sind und salzig, und salzig heißt, die Gäste trinken mehr. Ansonsten gibt es wirklich keinen Grund für Erdnüsse.
Aber im Fall Lachs sieht es anders aus: Der kann nämlich richtig gut schmecken – wenn es denn Pazifischer Wildlachs ist: rotes, festes, kaum marmoriertes Fleisch. Aber das, was auf den Hotelfrühstücksbuffets liegt, ist Zuchtlachs, billiger, gelblicher Fisch mit dicken Fetteinlagerungen. Er schmeckt so traurig, wie sein Leben war: Auf kleinstem Raum innerhalb weniger Monate schlachtreif gemästet, mit Medikamenten vollgepumpt, damit er nicht schon bei lebendigem Leibe zu faulen beginnt.
Aus reiner Gratisgier also wird am Hotelbuffet schlechter Lachs gegessen – und wahrscheinlich sind diese Erfahrungen auch der Grund dafür, weshalb sich ansonsten niemand mehr welchen kauft.
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