In der Simulation der Krise scheint ein beträchtliches Vergnügen zu liegen. Oder woher sonst rührt die weiterhin steigende Konjunktur des Begriffs »Stresstest«? Allein in den letzten Tagen tauchte das Wort, seit Stuttgart 21 und der Atomdebatte allgemein gebräuchlich, in einem halben Dutzend neuer Zusammenhänge auf. Die größten und die kleinsten Phänomene werden inzwischen mit seiner Hilfe beschrieben: Philipp Rösler schlug einen grundsätzlichen »Stresstest« für alle Euro-Länder vor, das Länderspiel gegen Brasilien wurde zum »Stresstest« für die deutsche Nationalmannschaft deklariert, und auch in Berichten über Rückreisestaus, Tanzkurse vor der Hochzeit und überfüllte Urlaubsstrände darf das Wort nicht fehlen. Der Brockhaus hat es gerade in seine digitale Ausgabe übernommen.
Bis Anfang des Jahrhunderts kam der Begriff allein im Kontext der Kardiologie vor, als Übernahme der englischen Bezeichnung für das Belastungs-EKG. »Stress Testing« überprüft also die Stabilität eines Systems unter ungewöhnlich schweren, experimentell herbeigeführten Bedingungen. Wenn das Wort in den letzten Jahren zunächst auf das Gebiet der Ökonomie und seit Kurzem auf jede denkbare Debatte übertragen wurde, dann genau deshalb, um den vertrauenerweckenden Rahmen einer Übung unter ärztlicher Aufsicht herzustellen: Der »Stresstest« soll latente Bedrohungen in den Griff bekommen, weil er sie sorgfältig durchspielt, weil er sie berechenbar und vorhersehbar macht.
Der Zeitpunkt des »Stresstests« ist dabei eindeutig: Das Experiment muss immer vor jenem Ereignis stehen, das es abzumildern gilt. Wenn man sich aber ansieht, auf welche Gebiete dieser Begriff in den letzten Monaten angewandt wurde, ergibt sich ein ganz anderer Befund. Denn egal ob es sich um Bahnhöfe, Atomkraftwerke, Finanzmärkte oder ganze Währungsverbunde handelt: Die Option eines »Stresstests« scheint immer erst nach der Krise auf, nach der Katastrophe; die vermeintliche Prophylaxe ist in Wahrheit Therapie.
Und steht das inflationär gebrauchte Wort daher nicht stellvertretend für ein Zeitalter, das in der Soziologie den Namen »Vorsorgegesellschaft« trägt? Kommende Wirklichkeit soll durch möglichst genaue Prognosen bewältigt werden, doch gleichzeitig jagt man dem Desaster unaufhörlich hinterher. Gerade in diesen Tagen hat es sich wieder jäh erwiesen, dass dem Unwägbaren der Wirklichkeit nie restlos beizukommen ist. Die Börsen implodieren, die britischen Großstädte brennen, und keine noch so akribische Vorsorge konnte diese Ereignisse verhindern. Zweifellos wird jemand in Kürze einen »Stresstest« für gefährdete Metropolen anregen.
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