»Es war wie mit einem Baby«

Sabine und Günter Eitel, Tierpfleger im Münchner Zoo, haben 1999 gemeinsam ein Löwenjunges großgezogen. Hier erzählen sie, was Tami in ihrer Wohnung alles kaputt gemacht hat und wie schwer ihnen der Abschied von ihr fiel. 

»Am Anfang hat Tami die Krallen schon ausgefahren. Aber wir haben relativ schnell geklärt, dass man die Rudelchefs nicht kratzt«, sagt Sabine Eitel.

Illustration: Lina Müller

SZ-Magazin: Sie haben gemeinsam ein Löwenbaby groß gezogen. Waren Sie damals auch so berühmt wie Eisbär Knut und sein Pfleger?
Sabine Eitel (51): Am Anfang war schon ab und zu die Presse da. Es gab auch einen kleinen Tami-Fanclub, so haben wir das Löwenbaby damals getauft. Ein Dauergast hat uns ein Fotobuch geschenkt. Aber heute in Zeiten von Social Media wäre der Hype sicher anders. Damals haben wir den Löwen eher nebenbei aufgezogen.

Inwiefern verändert das eine Partnerschaft, wenn plötzlich ein Löwenbaby dazwischen ist?
Günter Eitel (59): Es war eine intensive Zeit. Wir hatten nur uns und den Löwen.
Sabine Eitel: Es gab keinen Kinobesuch, kein Essen gehen, eigentlich gab es sonst gar nichts.
Günter Eitel: Es war wie bei einem Baby. Da ist man wahrscheinlich auch froh, wenn es irgendwann größer wird und man wieder etwas mehr Freiraum hat. Aber unserer Beziehung hat es auf alle Fälle nicht geschadet.
Sabine Eitel: Immerhin haben wir ein Jahr später geheiratet.

Und wie sind Sie beide zu Ihrem Löwenbaby gekommen?
Günter Eitel: Die Mutter gab nicht genug Milch, die andere Löwin, die wir zu der Zeit noch hatten, kümmerte sich nicht um die Tami. Es gab also nur die Möglichkeit, sie sterben zu lassen oder rauszunehmen und mit der Hand aufzuziehen. Ich arbeitete damals im Raubtierhaus und es war schnell klar, dass es einer der Raubtierpfleger machen würde. Doch Sabine und ich wohnten gemeinsam in einem Haus im Zoo. Das war ein Vorteil. Wir mussten das Tier ja mit heim nehmen, weil wir es die ersten drei, vier Monate ständig betreuen mussten.

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Wie hat es sich angefühlt, plötzlich Eltern zu werden?
Sabine Eitel: Ich war damals Mitte 20 und hatte plötzlich einen kleinen Löwen in der Hand. Was wünscht man sich als Tierpfleger mehr? Aber natürlich war es am Anfang ungewohnt.
Günter Eitel: Sie an die Flasche zu gewöhnen, war eine Mammutaufgabe. Am ersten Abend waren wir bis drei Uhr morgens wach. Und dann hat sie plötzlich angefangen zu nuckeln.
Sabine Eitel: Für uns hieß es den ganzen Tag bloß: Wasser heiß machen, abkochen, Milch anrühren, schauen, dass der Löwe trinkt, dass er Kot absetzt, dass er schläft. Und als wir alles aufgeräumt hatten, mussten wir fast schon wieder anfangen, neues Wasser warm zu machen.

Wie sah Ihr Alltag damals aus?
Günter Eitel: Wir hatten Glück, dass wir zu zweit waren. Sabine ist ein Nachtmensch, ich ein Frühaufsteher. Sie hat die Tami das letzte Mal so um Mitternacht getränkt, ich das erste Mal um vier Uhr morgens. Wir mussten ja auch einmal schlafen. Denn von unserer normalen Arbeit wurden wir damals nicht freigestellt.
Sabine Eitel: Die ersten 30 Tage lag sie eigentlich fast bloß im Körbchen. Da war eine Rotlichtlampe drin und am Anfang stand es im Aufenthaltsraum der Tierpfleger. Alle zwei, drei Stunden mussten wir ihr die Flasche geben. Nach 30 Tagen fing sie an, Fleisch zu essen. Und nach drei Monaten blieb sie tagsüber im Löwenkäfig.
Günter Eitel: Das ging dann nicht mehr, sie in der Wohnung zu lassen. Sonst hätte sie uns alles zerlegt.

Was hat sie alles kaputt gemacht?
Günter Eitel: Hauptsächlich den Wäschekorb.
Sabine Eitel: Die Eckbank mussten wir auch erneuern.
Günter Eitel: Das Bett hatte ein paar Kratzer.
Sabine Eitel: Für einen Löwen völlig im Rahmen.

Wurden Sie auch verletzt?
Sabine Eitel: Am Anfang hat sie ihre Krallen schon ausgefahren. Aber wir haben relativ schnell geklärt, dass man die Rudelchefs nicht kratzt.

Wie klärt man das?
Sabine Eitel: Indem man mal laut sagt: Ich mag das nicht. Oder sie mal wo hinschiebt oder am Schlawittchen packt. Einfach in Löwensprache klar macht: Bei der Mama würdest du mit der Pranke eine gewatscht kriegen. Sie musste das lernen, sonst hätten wir in einem halben Jahr keine Arme mehr gehabt.
Günter Eitel: Das war mit drei Monaten, da hatte sie eine kleine Motzphase – wie bei Kindern, dass sie ihre Grenzen austesten wollte. Aber die Tami war eine ganz eine Liebe. Je älter sie wurde, desto lieber wurde sie eigentlich.

Wann kommt denn der Zeitpunkt, dass der Löwe merkt, dass er ein Raubtier ist und Sie Menschen?
Günter Eitel: Das merken Löwen nicht. Der Tami war es egal, dass wir Menschen sind. Es spielt eher eine Rolle, dass wir nicht 24 Stunden bei ihr sein konnten. In einem echten Rudel wäre es natürlich nicht normal, das Baby so viele Stunden alleine zu lassen. Als sie nicht mehr bei uns Zuhause schlief, haben wir uns jeden Tag um 22, 22:30 Uhr verabschiedet. Dann hat sie immer geschrien wie eine junge Katze. Die wollte natürlich mit uns mit, aber konnte nicht. Das war immer ganz schlimm für mich. Sie war nicht glücklich alleine, das hat man einfach gesehen, und das tut einen als Elternteil natürlich weh, wenn das Baby jammert.

Und wie weh tat es ihrer echten Mama, dass ihr Kind plötzlich weg war?
Sabine Eitel: Am Anfang hat sie die Tami schon gesucht, aber irgendwann hat sie es akzeptiert, dass sie weg ist. Wir hätten sie nicht zur ihr zurückgeben können. Die hätte die Tami getötet, weil sie schon nach zwei, drei Wochen nicht mehr erkennt, dass es einmal ihr Kind war.
Günter Eitel: Den Löwen wieder einsetzen, klappt höchstens, wenn er erwachsenen ist.

Doch es funktionierte nicht. Tami kam in einen Zoo in Kopenhagen. Wie war das Abschiednehmen für Sie?
Sabine Eitel: Das war ganz hart. So mit einem Dreivierteljahr war uns klar, dass der Abschied kommen muss. Am Abend davor sind wir noch einmal hin und haben sie bespaßt. Am nächsten Tag wurde sie narkotisiert, kam in eine Kiste und weg.
Günter Eitel: Wir wollten nicht beim Einpacken dabei sein. Wenn wir daneben gestanden wären, wenn sie mit dem Blasrohr angeschossen wurde, hätte sie nur schlechte Erinnerungen an uns gehabt.
Sabine Eitel: Heutzutage würde man vielleicht einfach mitfahren. Damals haben wir gar nicht so viel erfahren. Am Anfang rief noch mal jemand an, dass sie nicht richtig frisst. Da wären wir am liebsten hin und hätten sie wieder geholt. Wir wussten, dass sie getrauert hat.

Wissen Sie, wie es ihr heute geht?
Günter Eitel: Wahrscheinlich lebt sie gar nicht mehr. Sie wäre ja jetzt über 20, das ist für einen Löwen alt.
Sabine Eitel: Wir waren danach noch zwei, drei Mal in Dänemark im Urlaub und haben sie besucht. Am Anfang hat sie uns begrüßt. Das hat mich natürlich gefreut, aber dann sind auch noch mal alle Erinnerungen hoch gekommen. Das war so eine enge Beziehung, so eine enge Bindung. Heute kommt immer noch alles hoch, wenn man die Bilder anschaut.

Würden Sie sagen, das ist auch gefühlsmäßig wie bei einem eigenen Kind?
Sabine Eitel: Ich habe keine eigenen Kinder, deshalb kann ich das gar nicht so genau sagen. Aber ich denke, am Anfang ist der Unterschied tatsächlich nicht groß. Außer, dass Löwen schneller erwachsenen werden als Menschen. Als wir die Tami das letzte Mal 2003 besucht haben, hatte sie schon Nachwuchs. Sie hatte ihr eigenes Leben und ich habe dann auch nicht mehr versucht, ihre Aufmerksamkeit zu erwecken. Ich hab sie gehen lassen – als wenn ein Kind auszieht. Der Abschnitt war dann beendet.

Würden Sie noch mal einen Löwen groß ziehen?
Sabine Eitel: Ich bin hin- und hergerissen. Wenn wir ganz freigestellt wären, vielleicht. Aber Vollzeit arbeiten und nebenher einen Löwen aufziehen, das würde ich nicht mehr machen.
Günter Eitel: Ich auch nicht. Wenn, dann müssten es zwei oder mehr sein, damit das Tier nicht so viel alleine ist. Einen Hund würde man ja auch nicht manchmal 15 Stunden am Stück alleine lassen. Aber heute gibt es solche Handaufzuchten sowieso kaum mehr. Der Zoo kontrolliert viel besser, wie sich die Tiere vermehren. Da ist die Verantwortung total gewachsen. Das ist nur fair gegenüber den Tieren und gegenüber uns.

Gibt es trotzdem Situationen, in denen Ihnen die Tiere leidtun?
Günther Eitel: Ich mache den Job seit 1976. Damals gab es Haltungen, da hat man als Tierpfleger bloß den Kopf geschüttelt. Früher waren die Gehege viel enger, kleiner, nicht so schön eingerichtet. Natürlich tun einem da die Tiere Leid. Aber Hellabrunn hat mit den Tiertrainings einen großen Schritt nach vorn gemacht. Denn essentieller als Bewegung ist die Beschäftigung.

Aber man sieht doch in Zoos oft, wie Raubkatzen die ganze Zeit auf ein paar Metern hin- und her laufen.
Günther Eitel: Von meinem Pfleger-Herz her könnten die Anlagen natürlich 20 Mal so groß sein. Aber es ist trotzdem wichtiger, dass man sich mit den Tieren beschäftigt. Beim Tierpfleger ist es wie in der Altenpflege: Wenn man den Leuten bloß den Hintern auswischt und sonst keinen sozialen Kontakt hat, ist das Leben auch nicht lebenswert.
Sabine Eitel: Dass Tiere ihre Wechsel haben, also bestimmten Spuren folgen, ist ganz normal. Das machen sie im Wald auch. Tiere gehen nicht kreuz und quer durch die Pampa.

Welche Rolle spielte es für Sie, dass Sie ausgerechnet einen Löwen, den König der Tiere, aufgezogen haben und kein anderes Tier?
Sabine Eitel: Für mich ist der Löwe meine Lieblingsraubkatze, weil das eine Hundekatze ist und nicht so ein typischer Katzen-Einzelgänger wie zum Beispiel der Tiger. Aber ich arbeite ja eigentlich als Huftierpflegerin. Ich habe auch schon Steinböcke mit der Flasche aufgezogen, das war auch etwas ganz Besonderes. Die kann ich heute immer noch anfassen.
Günther Eitel: Und vor ein paar Jahren haben wir Eichhörnchen aufgezogen. Das war auch eine enge Beziehung.
Sabine Eitel: Aber natürlich ist es etwas anderes, wenn ein Eichhörnchen vier Wochen bei dir ist oder ein Löwe 14 Monate. Das war so eine tolle Erfahrung, die mir immer bleiben wird.