SZ-Magazin: Frau Ostrick, Sie arbeiten seit 2011 als Pfarrerin und Gefängnisseelsorgerin in der JVA Tegel, wo über 800 Straftäter in Haft sitzen. Sie kümmern sich um jeden, egal was er getan hat. Wie schaffen Sie es, sich abzugrenzen?
Christina Ostrick: In der Seelsorge-Ausbildung lernt man auch, auf sich selbst zu schauen, und dazu gehört die richtige Balance zwischen Nähe und Distanz. Ich mache mir bei den Gesprächen mit den Inhaftierten immer bewusst: Das ist sein Schicksal, nicht meins. Ich blicke zwar in den Abgrund, darf aber nicht hineinfallen. Nur so kann ich den Inhaftierten den sicheren Ort bieten, den sie brauchen.
Sind Sie manchmal überfordert?
Natürlich. Ich werde bei jedem Gespräch emotional, dadurch öffne ich mich für meine Gesprächspartner. Ich erlebe aber auch oft, dass die Inhaftierten während der Seelsorge auf mich achten. Wenn sie mich zum Beispiel mit schlimmen Tatsachen konfrontieren, fragen sie, ob es mir zu viel ist oder sie das überhaupt erzählen können. Sobald ich merke, dass es mir nicht mehr gut geht, lasse ich meine Gesprächspartner wissen, dass ich das Gesagte erstmal verarbeiten muss.
Wie läuft so ein Gespräch normalerweise ab?
Wenn mich ein Gefangener aufsucht, weiß ich in der Regel nicht, was er getan hat. Er hat dann in einem »Vormelder«, also einem Brief, um ein Gespräch gebeten, wobei er sein Verbrechen nicht angeben muss. Das ist gut so, denn so kann ich dem Menschen ohne Vorurteile gegenübertreten. Ich hole den Inhaftierten in seiner Zelle ab. Mein Funkgerät habe ich immer bei mir, damit könnte ich, wenn nötig, Hilfe holen. Dann gehen wir zu mir ins Büro. Dort habe ich viele Bücher und Spiele und eine Schale Süßigkeiten auf dem Tisch liegen. Die Atmosphäre ist also viel entspannter als im Rest der Haftanstalt. Vor dem Gespräch zünde ich eine Kerze an und schenke Kaffee oder Tee ein. Der Gefangene gibt vor, um was es gehen soll. Irgendwann erfahre ich dann vielleicht auch, was jemand getan hat. Das ist aber nicht das Ziel der Seelsorge.
Sondern?
Für die Menschen da zu sein. Ich bin zum Teil jahrelang mit Männern in Kontakt und weiß ihre Taten nicht. Das ist die schöne Seite meines Berufs: Ich lerne die Inhaftierten als Menschen kennen, ihre Sorgen, ihre Träume, ihre Ängste. Und dieser Mensch ist dann immer noch da, wenn ich von dem Verbrechen erfahre.
Hören Sie während der Gespräche einfach nur zu?
Das würde den meisten Inhaftierten nicht helfen. Viele brauchen das Kontra, andere wollen sich selbst auf den Grund gehen. Sie wollen herausfinden, warum sie überhaupt hier sind. Um das herauszufinden, ist viel Feingefühl nötig, weshalb ich versuche, zu jedem Inhaftierten eine persönliche Beziehung aufzubauen. Bei der Seelsorge werden die Inhaftierten wertgeschätzt, ohne dabei die Augen vor der Tat zu verschließen. Sie sollen merken: Auch meine Sorgen sind es wert, dass man zuhört. Ich als Person bin wertvoll, nur meine Tat eben nicht. Man ist trotzdem ein Mensch mit Würde.
Mit welchen Sorgen kommen die Gefangenen zu Ihnen?
Mit allem, was es im Leben gibt. Die Inhaftierten bilden einen Querschnitt der Gesellschaft ab, vom Manager bis zum Hartz-IV-Empfänger. Manche sind erst zwanzig Jahre alt, andere schon Senioren. Oft gehen die Gespräche über Verlust, weil ein Familienangehöriger krank geworden oder gestorben ist. Wir reden aber auch viel über den Haftalltag, die Kindheit und Jugend der Inhaftierten und darüber, was sie machen wollen, wenn sie rauskommen. Ab und zu geht es auch um die Straftat selbst. Viele machen sich Vorwürfe und wollen verstehen, wie es dazu kam. Und manche suchen nur einen Gesprächspartner, um Smalltalk zu führen und dem Gefängnisalltag zu entkommen.
»Mir ist bewusst, dass es viele Menschen komisch und nicht nachvollziehbar finden, wenn ich sage, dass ich versuche, Verständnis für die Inhaftierten aufzubringen«
Haben Sie manchmal Angst?
Ich darf keine Angst haben. Wer Angst hat, strahlt das auch aus. Ich weiß, dass ich vorsichtig sein muss und lasse gesunden Menschenverstand walten. Wenn ich zum Beispiel sehe, dass jemand im Gespräch angespannt ist, dann muss ich das ja nicht herausfordern. Ich habe außerdem über die Jahre gelernt, mich selbstbewusst zu bewegen, bin direkter geworden und weiß wie man so »Nein« sagt, dass es ankommt.
Hat Sie Ihre Arbeit verändert?
Vielleicht bin ich im Alltag manchmal härter, als ich sein sollte. Ich arbeite außerhalb der Anstalt auch in der Notfall- und Telefonseelsorge. Einmal rief mich jemand an und sagte, ich solle bitte nicht erschrecken: Er hätte jemanden umgebracht. Ich antwortete ihm nur: »Damit kann ich umgehen.«. Es ist schon kurios zu merken, wie abgeklärt man wird, aber in der JVA sind nun mal alle Straftaten vertreten. Mir ist bewusst, dass es viele Menschen komisch und nicht nachvollziehbar finden, wenn ich sage, dass ich versuche, Verständnis für die Inhaftierten aufzubringen. Aber meine Arbeit hilft mir unglaublich, Menschen insgesamt besser zu verstehen. Es ist halt nicht immer alles nur gut in uns.
Welcher Fall ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Ganz am Anfang hatte ich eine Person in der Seelsorge, die wegen einer Gewaltstraftat im Gefängnis war und regelmäßig in den Gottesdienst kam. Ich sprach ihn alle 14 Tage, was sehr häufig ist. Er hatte eine schwere Kindheit, war von beiden Elternteilen missbraucht worden, sowas wie Urvertrauen kannte er nicht. In unseren Gesprächen kamen viele traumatische Erinnerungen hoch. Als der Entlassungstermin näher rückte, wurde er nervös. Er hatte starke Angst davor, was ihn draußen erwartet, ob er ein normales Leben führen kann. Fast täglich wollte er da zu Gesprächen kommen. Als er dann endlich entlassen wurde, machte ich mir große Sorgen, dass er wieder im Gefängnis landet. Doch er wurde bis heute nicht rückfällig. Später lud er mich zu einem Schauspiel ein, bei dem er selbst mitspielte. Es machte mich sehr stolz und glücklich zu sehen, wie er sich in der Außenwelt einbrachte. Danach haben wir gemeinsam einen Kaffee getrunken und auf seinen Erfolg angestoßen. Diese Begegnung hat mir gezeigt, warum ich meinen Job mache.
Gab es mal einen Fall, bei dem sie Ihr Funkgerät benutzen mussten?
Ja, einmal. Ich kannte den Inhaftierten bereits länger und eigentlich ging unser Gespräch gerade um etwas Schönes. Doch irgendwas kam über ihn und er fiel mich an. Ich weiß bis heute nicht, was der Auslöser war. Ich erinnere mich, dass mein Funkgerät fast leer war. Zum Glück ging der Alarm trotzdem los. Als der Inhaftierte die Sirene hörte, ließ er ab und rannte aus dem Büro. Meine Lehre aus der ganzen Sache war, dass man Vorsicht braucht, aber auch die Bereitschaft, uneingeschränkt als Seelsorgerin da zu sein.
Ist die Nachfrage nach Seelsorge im Gefängnis groß?
Es besteht mehr Bedarf, als meine Kolleginnen und Kollegen und ich abdecken können. Gerade in der Pandemie, als keine Besuche stattfinden konnten. Das war für manche Inhaftierten sehr schlimm. Hier in Tegel gibt es keine Telefone in den Zellen, nur eins draußen auf der Station. Weil das zu Hochzeiten ständig belagert war, erreichten viele tage- oder wochenlang ihre Angehörigen nicht. Da haben wir viele Seelsorge-Gespräche bei Spaziergängen im Hof geführt. Die Pandemie hat aber dazu geführt, dass es hier im Berliner Gefängnis jetzt Skype-Möglichkeiten gibt. Gerade für Inhaftierte, deren Angehörigen nicht in Berlin oder Umgebung wohnen, ist das toll.
Was machen Sie, wenn Sie selbst Sorgen haben?
Zur Seelsorge gehen. Abgesehen davon hält mich mein Glaube emotional gesund. Er schenkt mir Geborgenheit. Und wenn mich etwas akut sehr mitnimmt, dann fange ich an zu singen, Musik erdet mich. Um abzuschalten, pflücke ich Obst und koche Marmelade ein oder arbeite in meinem Garten. Auch Unkrautrupfen beruhigt mich: Wenn man die Wurzeln tief unten anpackt und rausreißt, dann hat das etwas Grobes. Etwas, das ich in meinem Job selten rauslassen darf, in der Seelsorge muss man ja eher behutsam sein. Deshalb ist das ein guter Ausgleich.