SZ-Magazin: Frau Ruf-Büttner, schon vor Corona herrschte in Deutschland Pflegenotstand. Warum haben Sie sich dennoch für die Krankenpflege entschieden?
Sophia Ruf-Büttner: Als ich in der 11. Klasse mein Sozialpraktikum im Krankenhaus ableistete, war mir schon nach fünf Minuten klar: Das ist es, was ich machen möchte. Nach dem Abitur habe ich dann die Ausbildung zur Kinderkrankenpflegerin absolviert.
Heute arbeiten Sie auf der Kinderonkologie. Warum diese Station?
Ich wurde auf der Kinderstation eines kleinen Krankenhauses ausgebildet. Da die Kinder dort nicht schwer erkrankt waren, konnten sie meistens schon nach wenigen Tagen entlassen werden. Nach der Ausbildung hatte ich Lust, Neues zu lernen und Kinder mit komplexeren Krankheitsbildern zu betreuen. Auf der Onkologie kann ich Kinder über einen längeren Zeitraum begleiten.
Gibt es einen Fall, der Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Viele Fälle berühren mich auf unterschiedliche Art und Weise. Was mich über die letzten Monate aber sehr beschäftigt hat, ist der Fall eines Kleinkinds. Es kam vergangenen April mit einer Leukämieerkrankung zu uns und erhielt seine ersten Chemotherapien. Zunächst lief alles gut. Das Kind war aufgeweckt und gesprächig. Doch dann erkrankte das Mädchen an Covid, was zu einer schweren Lungenentzündung führte. Schließlich wurde es auf die Intensivstation verlegt und musste dort mehrere Wochen beatmet werden. Es sah mehrmals sehr kritisch aus. Eine belastende und traumatisierende Zeit für die ganze Familie. Als das Kind endlich wieder zu uns auf die Onkologie-Station kam, war es von der langen Beatmungszeit körperlich schwer gezeichnet und schwach. Trotzdem plapperte es sofort wieder los. Sein fröhliches Wesen hatte sich nicht verändert. Das hatten wir nicht erwartet. Schließlich wurde es entlassen und hat sich auch anschließend gut weiterentwickelt. Seitdem hat es uns auch schon einmal besucht und gezeigt, was es nun alles schon kann. Das war so schön zu sehen und hat mich tief berührt. Auch der Familienzusammenhalt war sehr besonders.
Wie würden Sie den Zusammenhalt dieser Familie beschreiben?
Sehr eng. Das Kind war nie allein. Seine Mutter war jede Nacht da und der Vater zusätzlich tagsüber. Somit konnten sie sich Aufgaben abnehmen und gegenseitig entlasten. Jeden Morgen brachte der Vater ihm Obazda oder andere seiner Leibspeisen mit.
Wie geht es dem Kind heute?
Seine Behandlung hatte sich durch die Covid-Infektion leider verzögert. Jetzt ist die Intensiv-Therapie auf Station aber geschafft. Zuhause muss das Kind aktuell noch Tabletten einnehmen. Es ist wirklich auf einem guten Weg.
Die Familien sind teilweise monatelang auf der Station. Wie ist Ihr Verhältnis zu ihnen?
Ich würde es als enges Verhältnis bezeichnen. Wir haben ein großes Ziel: diese schwere Situation für Kind und Eltern so angenehm wie möglich zu machen. Dennoch muss ich auch eine gewisse Distanz wahren. Das gehört zum Beruf dazu. Aber natürlich denke ich über manche Fälle länger nach oder träume sogar manchmal davon.
Haben Sie dafür weitere Beispiele?
Anfang letzten Jahres haben wir viele Familien krebskranker Kinder aus der Ukraine aufgenommen. Sie kamen zu Kriegsbeginn nach einer zweitägigen Busreise in der Klinik an. Hinter ihnen lagen teilweise mehrere Tage und Nächte im Keller eines Kiewer Krankenhauses. Manche Kinder waren in einem sehr instabilen Zustand. Sie waren mangelernährt, dehydriert und hatten zum Teil auch Infektionen. Dazu kamen Traumata durch die Tage unter Sirenenalarm in Kiew. Manche dieser Kinder werden bis heute bei uns behandelt. Obwohl ich immer sehr gut mit der Arbeit und der emotionalen Belastung zurechtkam, haben mich diese Fälle doch sehr mitgenommen und oft auch nach Dienstschluss nicht losgelassen. Einerseits bewundere ich die Stärke der Familien, die diese schreckliche Situation so gut meisterten. Andererseits war ich aber auch oft sehr traurig, weil ich einfach nicht verstehen konnte, warum solche Dinge passieren.
Wie lenken Sie sich dann ab?
Ich unternehme viel und verreise gerne. Aber eigentlich muss ich mich gar nicht viel ablenken, denn ich verbinde die Kinder vor allem mit ihrer Freude, weniger mit ihrem Leid.
Die Kinder auf Ihrer Station haben oft einen langen Weg vor sich. Wie äußern sich ihre Ängste? Wie können Sie ihnen Sorgen nehmen?
Anfangs sind die Kinder oft sehr schüchtern, sprechen wenig und weinen viel. Sie werden von den Untersuchungen und Therapien geradezu »überrollt« und müssen erstmal lernen, mit der neuen Situation umzugehen. Mit der Zeit bekomme ich aber mit, wie manche Kinder auf bestimmte Dinge reagieren und was ihnen dann besonders hilft. Das Kind aus meinem beschriebenen Fall hatte beispielsweise sehr große Angst vor dem Verbandswechsel. Also haben wir mit ihm zusammen abgesprochen, wann wir den Verband genau wechseln, nämlich dann, wenn es sich dazu bereit fühlt. So konnte das Kind sehen, dass wir auf seine Bedürfnisse eingehen. Wir haben aber zusätzlich Angebote wie Ergo-, Kunst- oder Musiktherapie und Klinikclowns, die den Kindern bei der Angstbewältigung helfen.
Grippe, RS-Virus und Corona: Viele Kinderkliniken sind vor allem in den Wintermonaten immer wieder überlastet. Auch Ihre Klinik vermeldete Engpässe. Gibt es Tage, an denen Sie selbst am Limit sind?
Der vergangene Winter war für uns Pflegende sehr intensiv. Vor allem, wenn Teammitglieder selbst krank waren und wir die Dienste schnell nachbesetzen mussten. Trotzdem: diese Engpässe sind nichts Neues. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir unsere Station zuletzt mit der eigentlich maximalen Bettenkapazität betrieben haben. Der Personalmangel ist ein Dauerproblem. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ich nach einem Dienst einfach mal weinen muss: weil ich überlastet bin, nichts essen konnte und kaum Zeit für meine Patienten hatte und nur das Nötigste machen konnte. Hinzu kommt dann noch die emotionale Belastung. Diese Kombination ist manchmal schwer zu verdauen. Kurzfristig hilft mir dann ein wertschätzendes Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Team. Langfristig braucht es aber eine echte Veränderung. Pflegende aus dem Ausland warten oftmals mehr als ein Jahr, bis sie anerkannt werden und hier arbeiten dürfen. Ich weiß von einem Fall, bei dem bis zur Anerkennung sogar drei Jahre vergingen. Außerdem müssen die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals verbessert werden.
Fühlen Sie sich mit und in Ihrer Arbeit ausreichend wertgeschätzt?
Nein, leider nicht. Manche denken, wir würden nur ärztliche Anordnungen ausführen, dabei ist Pflege viel mehr als das. Außerdem finde ich, dass ausgenutzt wird, dass Menschen in sozialen Berufen von sich aus mehr geben und sich gegenseitig helfen. Wie oft werde ich in meiner Freizeit angerufen und gefragt, ob ich einspringen könnte. Wenn ich Zeit habe, mache ich das natürlich auch, für mein Team und die Kinder. Wenn die Politik nicht handelt, müssen wir uns eben selbst aushelfen.
Immer wieder hört man: »Pflege? Ich könnte das nicht«. Was entgegnen Sie bei solchen Aussagen?
Ich glaube, diese Menschen machen sich ein völlig falsches Bild vom Pflegeberuf. Ich erzähle dann immer, wie bereichernd meine Arbeit sein kann. Die Eltern des leukämiekranken Kindes, von dem ich erzählt habe, sagten einmal zu mir: »Ihre Arbeit wird Sie glücklicher im Leben machen als viele andere.« Ich glaube, das bringt es ziemlich gut auf den Punkt.
Wie lassen sich mehr Menschen für diesen Beruf gewinnen?
Ein einmaliger 500 Euro Corona-Bonus bringt nicht viel. Wir brauchen einfach mehr Pflegekräfte, damit wir Kindern und Eltern mehr Aufmerksamkeit und Zeit schenken können. Das ist so wichtig, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen.