SZ-Magazin: Sie bezeichnen sich selbst als Geschichtenpflegerin, einen Beruf, den es so eigentlich nicht gibt. Erklären Sie uns, was Sie genau machen?
Sabrina Görlitz: Ich begleite sterbende Menschen und schreibe ihre Geschichten auf. Als Pflegerin bezeichne ich mich deshalb, weil ich behutsam mit diesen Geschichten umgehe und dafür Sorge trage, dass diese auf der Welt bleiben dürfen, auch wenn die Leben der Personen enden, die sie mir erzählt haben.
Wie kamen Sie auf diesen Job?
Ich bin gelernte Journalistin, habe mich aber immer schon viel mit dem Tod befasst. Als ich Mutter wurde, wuchs der Wunsch in mir, auch mit meinem Sohn über dieses Thema zu sprechen. Ich habe es in meiner eigenen Kindheit sehr vermisst, dass ich kein Gegenüber hatte, mit dem ich meine Gedanken über Endlichkeit, über den Sinn des Lebens oder des Todes teilen konnte. Außerdem sehe ich es als meine Verantwortung an, mein Kind nicht nur auf das Leben vorzubereiten, sondern auch auf das Sterben. Irgendwann habe ich mich dazu entschieden, mich zur Palliativbegleiterin weiterbilden zu lassen und zunächst ehrenamtlich in der Sterbebegleitung zu arbeiten. Und dann kam die Idee: Wie kann ich eigentlich meine alte Leidenschaft, das Schreiben, mit dieser Arbeit verbinden?
Wie entsteht die Geschichte eines sterbenden Menschen?
Ich komme in die Einrichtung und stelle mich der Person vor. Wenn sie mitmachen möchte, verabreden wir uns zeitnah zu einem Termin, an dem das eigentliche Gespräch stattfindet. Das dauert im Schnitt eine Stunde. Währenddessen reise ich mit dem Menschen durch sein Leben, wir passieren die prägendsten Stationen. Aber es geht natürlich auch um Gedanken oder Dinge, die ihm wichtig sind. Dann transkribiere und verschriftliche ich das zeitnah. Aus dem Gespräch entsteht ein Monolog, den ich nochmal vorlese, deshalb ist es entscheidend, dass die eigenen Worte der erzählenden Person darin erhalten bleiben. Das Vorlesen ist ein sehr wichtiger Moment, als würde das Leben der Person noch mal bezeugt dadurch.
Gibt es eine Frage, die Sie immer zuerst stellen?
Wenn Sie durch Ihr Leben reisen würden und an einer Station stehen bleiben, an der sie besonders glücklich waren, welches Bild taucht dann auf?
Und hat darauf jeder Mensch sofort eine Antwort?
Die meisten ja. Manchmal sagt jemand auch, dass er oder sie das gar nicht beantworten kann, weiß aber dafür genau, welches die traurigste Station war. Dann reden wir darüber. Ich bin der festen Überzeugung, dass es nicht gesund ist, über etwas nicht zu sprechen, nur weil es traurig ist. Im Gegenteil: Gerade in einem traurigen Moment steckt manchmal auch viel Liebe drin.
Gibt es einen Fall, der sie bis heute bewegt?
Ich denke über ein Jahr später noch immer an Daniel (Name geändert, Anm. d. Red.). Daniel war mit Mitte 40 noch recht jung für einen Palliativpatienten. Seine Frau war sechs oder sieben Jahre zuvor ganz plötzlich verstorben, die Trauer um sie hatte ihn in den Alkoholismus getrieben. Das hatte zu einer tödlichen Leberzirrhose geführt. Sein Schicksal war auch deshalb so tragisch, weil Daniel einen zehnjährigen Sohn hatte. Der Chefarzt der Palliativstation kontaktierte mich, weil er glaubte, dass meine Arbeit sowohl für Daniel als auch für den Sohn wichtig sein könnte.
Und was hielt Daniel von der Idee?
Er hat gleich zugesagt und wir fingen sofort an. Normalerweise mache ich einen zweiten Termin aus, aber ich wusste nicht, ob es morgen oder übermorgen schon zu spät wäre, so schlecht ging es ihm. Am Anfang des Gesprächs fiel es Daniel noch schwer, sich zu konzentrieren, aber je länger wir sprachen, desto wacher und fokussierter wurde er. Im Grunde erzählte er seine Geschichte für den Sohn. Er sprach viel von seiner Frau und davon, wie er und das Kind die ersten Jahre nach dem Tod der Mutter gemeistert, was sie alles zusammen unternommen und geschafft hatten. Und es war ihm sehr wichtig, seinem Sohn zu sagen, wie sehr er ihm wünscht, dass er andere Strategien findet, mit Trauer umzugehen.
Hatte er Schuldgefühle?
Es ging ihm nie darum, sich freizusprechen. Aber ich glaube, es hat ihm gutgetan, dass er auf diese Weise nochmal Vater sein konnte für seinen Sohn. Ich denke auch oft an ihn zurück, weil er wirklich ein kluger, geistreicher, feinfühliger und auch witziger Mann war. Er hatte aber ein gebrochenes Herz und wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Diese Alkoholsucht war ein Symptom. Wir haben auch darüber gesprochen, dass er eigentlich an seiner Trauer stirbt.
Wie ging es weiter nach dem Gespräch?
Ich habe seine Geschichte gleich am nächsten Tag fertiggestellt. Nachmittags rief ich auf der Station an, der Oberarzt sagte, dass Daniel noch da sei und es ihm sogar ein bisschen besser gehe. Ich bin am nächsten Tag hingefahren und habe ihm alles vorgelesen. Es gefiel ihm sehr. Auf der Station sprachen sie in den kommenden Tagen darüber, dass Daniels Blutwerte auf einmal so gut geworden wären, dass er offiziell nicht mehr als sterbend galt. Daniel selbst sagte, dass dieses Gespräch und das Zuhören ihm gutgetan und Stress genommen hätten.
Eine Wunderheilung also?
Nein, auch Wunder haben eine Halbwertszeit. Daniel ist drei Wochen später gestorben. Aber anders, davon bin ich überzeugt.
»Bei jüngeren Menschen stelle ich eher eine Sehnsucht nach Sinn fest, danach, dass das Leben Bedeutung hatte«
Wie kommen Sie zu der Überzeugung?
Daniel hatte abgeschlossen. Er wollte so nicht mehr leben und war deshalb auch erleichtert, als er von der Palliativstation ins Hospiz durfte. Der Chefarzt hatte in seinem Entlassungsbericht geschrieben, dass Daniel die biografische Arbeit geholfen hatte und es jetzt sein Wunsch war, in Frieden zu gehen. Ich besuchte ihn noch einmal im Hospiz und zwei Tage später starb er.
Wie fühlte sich das für Sie an?
Ähnlich wie der Moment, als mein Vater starb. Ich hätte Daniel gern als Freund in meinem Leben behalten und es ist mir sehr schwergefallen, ihn gehen zu lassen. Wissen Sie, in der Palliativarbeit geht es so viel ums Loslassen: das Leben, den todkranken Angehörigen. Die Situation mit Daniel hat mich daran erinnert, dass es einfach zutiefst menschlich ist, dass man einen Menschen behalten möchte. Es war gut, dass mir diese Perspektive noch mal aufgezeigt wurde.
Wie nehmen Sie Menschen so kurz vor deren Tod wahr?
Angehörige Todkranker sagen oft: Das ist gar nicht mehr Mutti oder das ist nicht mehr Peter, wie wir ihn kannten. Ich begegne den Menschen ja aber nur in diesem Zustand, ich kenne die Person von vorher nicht. Gleichzeitig habe ich manchmal den Eindruck, dass Menschen so kurz vor dem Ende erst wirklich sie selbst sind. Dann zeigt sich die Essenz eines Menschen.
Gibt es Themen, die immer wieder in den Geschichten der Sterbenden auftauchen?
Bei Älteren geht es oft um Fülle oder Erfüllung: was im Leben gemacht oder erreicht wurde. Bei jüngeren Menschen stelle ich eher eine Sehnsucht nach Sinn fest, danach, dass das Leben Bedeutung hatte, obwohl es früher als geplant zu Ende geht. Gemeinsam haben die meisten, dass sie am Ende wirklich das Wesentliche auswählen und sich nicht mehr an Details festhalten.
Hat diese Arbeit Ihre Perspektive aufs Leben verändert?
Vielleicht habe ich einen wertschätzenderen Umgang mit Vergänglichkeit gefunden, aber es ist ein Prozess, ich lerne mit jeder Geschichte dazu. Und natürlich gibt es in meinem Leben einen Alltag, in dem ich mich über Sachen ärgere oder mich an Kleinigkeiten störe, die im Angesicht des Todes keine Bedeutung hätten. Ich finde, das ist völlig okay und menschlich.
Würden Sie Ihre eigene Geschichte aufschreiben oder aufschreiben lassen?
Ich wünsche mir, dass sich die Geschichtenpflege so weit etabliert, dass ich eine Geschichtepflegerin an meinem Bett sitzen habe, die mit mir noch mal gedanklich nach Irland fährt – die Station auf meiner Lebensreise, an der ich am glücklichsten war.