SZ-Magazin: Sie sind seit acht Jahren beim Kampfmittelbeseitigungsdienst in Brandenburg. Wie kommt man darauf, beruflich Bomben zu entschärfen?
Enrico Schnick: Das hat mit meiner Zeit bei der Bundeswehr zu tun. Ich war in Afghanistan stationiert, und wenn wir bei Patrouillenfahrten außerhalb des Lagers nicht weiterkonnten, weil etwas im Weg lag, zum Beispiel ein Munitionskörper, dann wurde der Trupp geholt, der sich das angeschaut und entschärft hat. Da habe ich gesehen, wie die arbeiten, und ich begann, mich für den Job zu interessieren.
Wie wird man denn Bombenentschärfer?
Hier in Brandenburg kommt tatsächlich ein Großteil der Kollegen von der Bundeswehr. Es ist wichtig, dass man schon eine gewisse militärische oder technische Vorausbildung hat, der Rest wird dann über staatlich anerkannte Fachlehrgänge an sogenannten Sprengschulen vermittelt. Hat man dann die Qualifikation, muss man trotzdem noch regelmäßige Fortbildungen machen, weil es immer neue Erkenntnisse über Munition gibt. Der Job ist ein ständiger Lernprozess, weniger ein klassischer Ausbildungsberuf.
Wie kann man sich das Bombentschärfen vorstellen? Muss man sich wirklich zwischen blauem und oder rotem Draht entscheiden wie im Film?
Das ist Quatsch. Viele Leute denken auch, dass wir hier mit einem schweren Schutzanzug an die Bombe gehen, aber wenn die in die Luft geht, würde das gar nichts bringen. Als erstes schätzen wir vor Ort ein, mit was wir es zu tun haben. Wir schauen, was für einen Zünder die Bombe hat, ob es einer ist oder zwei, und wie schnell wir reagieren müssen. Bei sogenannten Langzeitzündern zählt jede Sekunde, bei einem mechanischen Zünder haben wir noch die Zeit, mit dem Ordnungsamt und Polizei Maßnahmen einzuleiten, also zu evakuieren, und das Vorgehen in Ruhe zu planen. Das Entscheidende ist dann, dass die Zündkette unterbrochen wird, indem der Zünder von der Bombe getrennt wird – entweder durch einfaches Herausschrauben oder mit Hilfsgeräten. Wenn es gar nicht anders geht, haben wir eine sogenannte Wasserschneidanlage, die mit Hilfe eines harten Wasserstrahls versucht, den Zünder zu entfernen.
Und warum arbeiten Sie bei Langzeitzündern so stark gegen die Zeit?
Bomben mit Langzeitzündern waren so konzipiert, dass sie nach dem Abwurf nicht sofort explodieren, sondern bis zu 144 Stunden später. Also erst dann, wenn die Leute wieder aus ihren Schutzräumen kamen, wenn die Aufräumarbeiten begannen. So sollte die Moral der Bevölkerung gebrochen werden. Dass manche Bomben im Zweiten Weltkrieg nicht detoniert sind, hat damit zu tun, wie die Bombe in die Erde eingedrungen ist. Normalerweise sollte sie nach dem Auftreffen auf den Boden mit der Spitze nach unten liegen bleiben. Vereinfach erklärt befindet sich im Zünder eine chemische Säure, die nach dem Aufprall austritt und anfängt, Material zu zersetzen, was wiederum nach einer gewissen Zeit den Zünder auslöst. Manche Bomben haben sich aber nach dem Eindringen in den Boden gedreht und sind mit der Spitze wieder hochgekommen. Wenn das passiert, kann der chemische Prozess im Zünder nicht in Gang kommen. Das Material, das durch die Flüssigkeit zersetzt werden sollte, kann aber nach den vielen Jahren von sich aus schon so stark verwittert sein, dass der Zünder auf einmal jederzeit auslösen kann. Bei diesen Bomben ist es keine Frage, ob sie explodieren, sondern, wann die explodieren.
Ist es dann nicht vielleicht sogar besser, die Bomben kontrolliert zu sprengen, sobald man sie findet?
Genau, ohnehin geht für uns das Sprengen dem Entschärfen vor, weil es sicherer ist. Aber man kann ja mitten in der Stadt nicht einfach sagen, man sprengt jetzt sofort. Da muss man abwägen, was für Schäden entstehen könnten, denken Sie nur an die Münchner Fliegerbombe damals. Deshalb entscheiden wir uns in stark besiedelten Gebieten oft erstmal dafür, zu entschärfen. Wenn wir dann aber merken, dass es absolut nicht geht, sprengen wir eben. Da geht dann doch das Leben vor.
»Auch wenn es der gleiche Munitionskörper ist wie die Male zuvor und man denkt, dass man ihn in und auswendig kennt, muss man die Situation jedes Mal neu bewerten«
In welchen Momenten wird es in Ihrem Job wirklich gefährlich?
Einmal bei den angesprochenen Bomben mit chemischen Langzeitzündern. Und bei Munition mit einem sogenannten vorgespannten Zündsystem. Das muss man sich ähnlich einem Kugelschreiber mit Feder vorstellen. Die Feder ist sozusagen gedrückt, also die ganze Zeit auf Spannung, und nun brauch es nur eine kleine Berührung oder einen Stoß – und die Feder entspannt sich explosionsartig, der Zünder löst aus und es kommt zur Detonation. Solche Zünder sind zum Beispiel in Minen oder Handgranaten verbaut. Diese Art von Munition müssen wir zwingend berührungsfrei an Ort und Stelle sprengen.
Gibt es einen Einsatz, der Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Ja, und er ist der Hauptgrund dafür, warum ich mich nach meiner Zeit in Afghanistan endgültig für den Beruf entschieden habe. In Neuhausen in der Nähe von Cottbus gab es im Dezember 2011, kurz vor Weihnachten, eine mächtige Explosion an einer viel befahrenen Hauptstraße. Da hat sich ein 15 Meter breiter Krater direkt an der Straße gebildet. Kurz vorher war noch der Schulbus über diese Straße gefahren, das müssen Sie sich vorstellen! Zuerst dachte man, dass es sich um ein Gasleck handelt, und ein Trupp wurde in das Loch geschickt, um es zu untersuchen. Kurz nachdem die wieder draußen waren, gab es die nächste Explosion. Der gesamte Bereich unter der Straße war voll mit Munition, Panzerminen, Raketen und so weiter. Unglaublich, dass da außer Sachschäden nichts passiert ist. Ich dachte: Dass Sprengsätze direkt neben der Straße explodieren, das kennst du bloß aus Afghanistan. Es fiel mir schwer, zu glauben, dass das nach so vielen Jahrzehnten in Deutschland noch möglich ist. Das war der Moment, in dem ich mir gesagt habe: Da tust du etwas dagegen.
Was war Ihr bisher größter Auftrag?
Das schwierigste in dem Gebiet, in dem ich in Brandenburg zuständig bin, sind Bombenfunde in Schwarzheide. Da ist ein großes Werk des Chemiekonzerns BASF. Wenn da eine Bombe gefunden wird, ist das sehr heikel. Auf dem Gelände werden ja so viele Chemikalien hergestellt und gelagert, in riesigen Tanks und Kesseln, wenn da was schiefgeht, explodiert nicht nur die Bombe.
Haben Sie manchmal Angst?
Angst darf man auf keinen Fall haben, sonst ist man bei uns fehl am Platz. Man darf aber auch kein Rambo sein. Wichtig sind Selbstbewusstsein, ruhige Nerven und natürlich eine ruhige Hand. Man darf das alles aber auch nicht zur Routine werden lassen, sonst kann das tödlich ausgehen. Auch wenn es der gleiche Munitionskörper ist wie die Male zuvor und man denkt, dass man ihn in und auswendig kennt, muss man die Situation jedes Mal neu bewerten.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs liegt bald 77 Jahre zurück. Müsste da nicht bald der Punkt erreicht sein, an dem alle Bomben von damals gefunden und entschärft wurden?
Nein. Laut Studien wird es noch Jahrzehnte dauern, bis das Land kampfmittelfrei ist. Dabei bergen wir jedes Jahr im Schnitt 300 Tonnen Kampfmittel, allein in Brandenburg, wobei das auch das Bundesland mit den meisten Kampfmitteln unter der Erde ist.
Woher kommt das?
Während des Zweiten Weltkriegs hat sich hier alles für den Angriff auf Berlin konzentriert. Zudem gab es hier so viele militärische Übungsplätze – übrigens schon aus der Kaiserzeit. Das ist also nicht bloß die Munition, die vom Weltkrieg herrührt.
In Ihrer Freizeit schreiben Sie Kinderbücher. Ein Ausgleich zum ernsten, gefährlichen Job?
Ich habe wirklich damit angefangen, damit meine zwei Kinder etwas von mir haben, falls mir mal etwas passiert. Außerdem ist es für mich nach so einem Arbeitstag ein Ausgleich, am Schreibtisch zu sitzen und nur mit dem Kopf zu arbeiten, genau. Noch dazu mit etwas, das schön ist, freundlich, lustig, unschuldig und leicht.