SZ-Magazin: Frau Tóth, Sie sind promovierte Historikerin und arbeiten heute als Sozialarbeiterin in der Beratung wohnungsloser Migranten. Wie kam es zu diesem Wechsel?
Katalin Tóth: Am Ende meiner Promotion war mir klar, dass ich erstmal keinen Schreibtisch-Job machen kann. Ich wollte mit Menschen arbeiten, unterwegs sein. Ein Bekannter aus dem Studium, der im sozialen Bereich tätig ist, sagte mir, dass sie bei der Münchner Obdachlosenberatung von Migranten »Schiller 25« jemanden suchen, der Ungarisch spricht. Als ich mich bewarb, hatte ich nur eine sehr vage Vorstellung davon, was die Arbeit dort ausmacht. Ich habe dann einen Tag hospitiert, mir die Einrichtung angeschaut, die Kolleginnen und Kollegen getroffen.
Was hat Sie an diesem Tag überzeugt?
Die Atmosphäre und die Art des Arbeitens. An dem Tag war ein Ungar da, er schlief im Auto, ging aber arbeiten, bei Bekannten konnte er ab und zu duschen. Es ging darum, dass er einen Arbeitsplatz findet, der mit einer Unterkunft verbunden war. Der Mann hatte keine Suchterkrankung, er sprach einfach kein Deutsch, war ein bisschen unbeholfen, und es wurde schnell klar, dass er all das auf sich nahm, um das Studium seines Sohnes zu finanzieren. Vor dem Beratungsbüro verlor er dann noch seinen Autoschlüssel, ich bin mit ihm zehn Mal die Straße hoch und runter gelaufen. Und plötzlich sah ich hier ich eine Aufgabe für mich.
Gibt es in Ihrem Beruf einen typischen Tag?
Wenn man morgens kommt, weiß man nie, was auf einen wartet. Aber es brennt immer irgendwo, irgendjemand steckt immer in einer Krise. Um damit möglichst gut klarzukommen, versuche ich, einen festen Rhythmus zu haben, etwa immer am selben Tag an denselben Einsatzort zu gehen. Streetwork mache ich immer einen Tag in der Woche, dann bin ich morgens unterwegs. Wir suchen auf der Straße Schlaforte auf, an denen wir die Menschen schon länger kennen, und schauen, wie es ihnen geht. Wenn ich einen Beratungstag habe, trinke ich morgens kurz Kaffee mit den Kollegen und wir besprechen, was ansteht, ob es Fälle gibt, die besonders viel Aufmerksamkeit brauchen. Dann kommen die ersten Klienten rein. Sie kommen oft mit ganz vielen Problemen und ich muss dann kurz sortieren, was jetzt das wichtigste ist.
Wer genau sind Ihre Klienten?
Wir beraten EU-Ausländer ohne Wohnsitz, die nach München kommen, um einen Job zu finden. Wir erklären, was man braucht, um hier zu leben, zu arbeiten, wie man eine Rentenversicherungsnummer oder beim Finanzamt eine Steuernummer beantragt. Für uns mag es selbstverständlich klingen, aber viele wissen auch nicht, dass man darauf achten muss, dass der Arbeitgeber einem einen Arbeitsvertrag gibt. Nicht jeder wird per se ausgebeutet, aber im Niedriglohnsektor muss man aufpassen. Wir helfen den Klienten mit den deutschsprachigen Briefen, oder suchen nach Lösungen, wenn der Arbeitgeber sie nicht bezahlt hat.
»Es gab einen Schockmoment, in dem ich gemerkt habe: Diese Arbeit kann so schlimm werden, dass mich die Bilder nach Hause begleiten«
Aus welchen Ländern kommen die Menschen, die Sie beraten?
Vor allem aus Ost- und Südeuropa. Aus Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Polen, Kroatien, Serbien. Aber auch aus Spanien oder Italien. Für diese Herkunftsländer bieten wir auch Beratung in der Muttersprache der Menschen an, das ist extrem wichtig, weil die deutsche Bürokratie ja schon so ziemlich kompliziert ist.
Was machen Sie neben der Beratung noch?
Wir kümmern uns um den sogenannten Übernachtungsschutz. Das ist ein relativ großes Haus, dort übernachten täglich rund 400 Menschen. Wenn unsere Klienten nicht anspruchsberechtigt sind, noch keine fünf Jahre in Deutschland leben, dann können wir ihnen dort einen Schlafplatz anbieten. Den Menschen, die unsere Schlafplätze für Obdachlose nutzen, stellen wir auch eine Postadresse zur Verfügung. Denn um in Deutschland arbeiten zu können, muss man postalisch erreichbar sein.
Gibt es einen Fall, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Als ich im September 2017 anfing hier zu arbeiten, gab einen Schockmoment, in dem ich gemerkt habe: Diese Arbeit kann so schlimm werden, dass mich die Bilder nach Hause begleiten.
Was war passiert?
Ein Polizist der Schwabinger Polizeiinspektion hatte sich bei uns gemeldet. Bei ihm gingen über Monate viele Beschwerden aus der Anwohnerschaft ein: Auf einer Bank am Bonner Platz lebten zwei ungarische Obdachlose – mit Tüten, ganz viel Müll und einem Einkaufswagen mit Flaschen daneben. Es war kein schöner Anblick. Wir kannten die Männer und wussten, dass beide untersucht werden mussten, auch, weil einer eine offene Tuberkulose hatte. An einem Tag fuhr ich mit der ungarischsprachigen Kollegin, die mich einarbeitete, dorthin, der Streifenwagen und ein Rettungssanitäter waren schon vor Ort. Wir sollten die Männer überreden, einzusteigen. Sie waren in sehr schlechtem Zustand. Irgendwie haben wir es geschafft, dass sie bereit waren mitzukommen, und als Herr Szabo (Name geändert, Anm. d. Red.) aufstand, fiel sein Schlafsack herunter. Auf dem Rücken hatte er eine riesige offene Wunde, es roch sehr stark nach rohem Fleisch. In der Wunde waren auch Würmer. Der Rettungssanitäter schaute ihn an und sagte: »Sepsis. Er hat nur ein paar Tage.«
Wie ging es mit Herrn Szabo weiter?
Er kam ins Krankenhaus, überlebte. Aber es war klar: Wenn er entlassen wird, kann er nicht in den Übernachtungsschutz. Als er aus dem Klinikum kam, konnten wird ihm von unseren Spendengeldern eine Unterkunft finanzieren, wegen der Wunde blieb er noch in Behandlung. Anders als mit seinem Freund, der sehr wütend war, wegen uns seinen Platz in Schwabing verlassen zu haben, hielten Herr Szabo und wir Kontakt, erfuhren so viel über sein Leben. Man sieht ja immer nur den Obdachlosen, aber auch er hatte mal eine Familie. Als die gestorben war, war er allein und er wollte nicht länger in Ungarn bleiben. Also ging er ins Ausland und landete wahrscheinlich so auf der Straße. Irgendwann kam in den Gesprächen dann diese völlig verrückte Geschichte auf, dass er zwar seit 30 Jahren auf der Straße lebe, aber ein Grundstück auf Sardinien habe – und dort hinwolle. Herr Szabo hat das wirklich oft gesagt und war sehr beharrlich.
Was taten Sie?
Überlegen: Was brauchte er, um nach Sardinien zu gelangen? Einen gültigen Reisepass und eine Fahrkarte. Machbar. Für den Reisepass haben wir Kontakt mit dem ungarischen Konsulat aufgenommen. Sie brauchten aber erst eine Geburtsurkunde, also hat meine Kollegin eine Stiftung für Wohnungslose in Ungarn kontaktiert. Es war der erste Fall, den ich so in der Tiefe mitbetreut und bei dem ich dann gesehen habe: Man schafft all diese Hürden, auch wenn es dauert.
»Man konnte richtig sehen, wie die Hoffnung wieder einzog bei ihm, wie ihm nicht mehr alles egal war im Leben«
Ist Herr Szabo also tatsächlich nach Sardinien gelangt?
Nach vier, fünf Wochen war der Reisepass fertig. Ich kaufte ihm ein Flixbus-Ticket nach Paris und als ich ihn zum Bahnhof begleitete, erzählte er mir, dass sein Kumpel von der Bank schon auf Sardinien sei. Es war immer schwer, ihm seine Sardinien-Geschichten zu glauben. Aber irgendwas in mir sagte, dass sie stimmten. Weil wir uns natürlich trotzdem sorgten, ob alles okay war, und Herr Szabo uns erzählt hatte, dass er auf Sardinien schon mal in einem Krankenhaus gewesen war, ließen wir einen Kollegen, der Italienisch sprach, alle Krankenhäuser in Sardinien anrufen. Und tatsächlich: Sein Name war in einem System vermerkt. So nach vier Monaten kam dann die erste Postkarte aus Sardinien.
Was stand drauf?
Er wünschte meiner ungarischen Kollegin und mir einen frohen Namenstag. In Ungarn ist der Namenstag für die ältere Generation fast wichtiger als der Geburtstag. Eine ungarische Mitarbeiterin aus dem Gesundheitsreferat, mit der ich später noch Kontakt hatte, bekam auch Postkarten von ihm. Das hörte irgendwann auf und jetzt wissen wir nicht mehr, wie es ihm geht.
Denken Sie gerne an diesen Fall zurück?
An dem Tag, an dem ich ihn in den Bus setzte, waren wir alle wirklich erleichtert. Als wir ihn ein halbes Jahr vorher von der Bank abgeholt hatten, dachten wir ja, dass er stirbt. Aber er konnte gerettet und geheilt werden. Und er merkte, dass meine Kollegin und ich für ihn da waren, ihn ernst nahmen und mit ihm an seinem Traum arbeiteten. Das hat etwas verändert in ihm, man konnte richtig sehen, wie die Hoffnung wieder einzog bei ihm, wie ihm nicht mehr alles egal war im Leben. Natürlich denkt man an so etwas gerne zurück. In solchen Momenten merke ich: Meine Arbeit macht einen Unterschied. Auch wenn es manchmal hart ist, komme ich jeden Tag gerne zur Arbeit. Es fühlt sich für mich so an, als ob ich jeden Tag ein sehr sinnvolles Ehrenamt mache und dafür auch noch bezahlt werde.
Können Sie sich vorstellen, wieder als Historikerin zu arbeiten?
Eher nicht. Wenn man in der Wissenschaft arbeitet, ist man oft so weit entfernt von den Menschen Die meiste Zeit sitzt man über einem Text und grübelt. Das kann auch viel bringen, klar – aber hier fühle ich mich wohler. Gebrauchter.