SZ-Magazin: Frau Bellmann, wie wird man Phantombildzeichnerin?
Liane Bellmann: Ich bin seit 1982 beim LKA, war aber bis 2002 im Vorzimmer der Abteilungsleitung eingesetzt. Dann kam ein neuer Chef, der fragte, wo der Phantombildzeichner sei. Wir hatten bis dahin aber gar keinen, das BKA unterstützte uns, wenn wir ein Bild brauchten. Als wenig später die Stelle eines Phantombildzeichners ausgeschrieben wurde, war ich wie elektrisiert. Ich habe schon als Kind wahnsinnig gerne Portraits gezeichnet, und an diesem Tag habe ich wieder damit angefangen. Ich habe mich ins Thema eingelesen, habe mit anderen Phantombildzeichnern in Deutschland Kontakt aufgenommen und bin dann mit so viel Elan ins Vorstellungsgespräch, dass die Verantwortlichen gar nicht an mir vorbeikamen. Dabei war die Stelle eigentlich für Polizisten ausgeschrieben, ich war und bin bis heute Angestellte.
Mussten Sie noch eine Ausbildung machen?
Ja. Ich bin zunächst immer für ein halbes Jahr in andere Bundesländer gefahren, die schon Phantombildzeichner hatten, und habe dort bei den Kolleginnen und Kollegen des LKA hospitiert, sie zu Einsätzen begleitet, mir das Know-how in der Praxis draufgeschafft. Und dann kam das FBI.
Das FBI?
Richtig. Ein Kollege, ebenfalls Phantombildzeichner, erzählte mir irgendwann, dass er zu einem Lehrgang des FBI in die USA reise, um Phantombildzeichnung und Gesichtsrekonstruktion zu lernen. Ich fragte ihn im Scherz: »Du brauchst nicht zufällig einen Kofferträger?« Aber er stellte tatsächlich den Kontakt her, und ich bewarb mich. Das Bewerbungsverfahren war sehr hart, das FBI machte deutlich, dass sie nur Leute zum Lehrgang zulassen, die bereits ein gewisses Niveau haben. Aber es klappte.
Wie war es beim FBI?
Alles war eine Nummer größer. Und das FBI fährt ein hartes Regiment. Der Zusage lag zum Beispiel eine einseitige Kleiderordnung bei. Als Frau durfte man keine Kleider tragen, die Oberarme mussten bedeckt sein, nur bestimmte Farben waren erlaubt. Ich musste erstmal für 1000 Euro neue Kleidung kaufen. Vor Ort waren wir in einem Motel in der Nähe des FBI-Hauptquartiers in Quantico untergebracht. Morgens wurden wir von einem Shuttle abgeholt und aufs Gelände gebracht, dann hatten wir bis 17 Uhr Unterricht, anschließend mussten wir im Motel noch bis spät abends Hausaufgaben machen. Es war sehr intensiv, aber auch sehr lehrreich.
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag jetzt aus?
Jeder Tag ist anders. Es gibt natürlich viel Verwaltungsaufwand, außerdem halte ich Schulungen. Aber der Hauptbestandteil sind natürlich trotzdem die Phantombilder. Benötigt eine Polizeidienststelle in Hessen ein Phantombild, fordert sie mich an. Zusätzlich mache ich Gesichtsweichteilrekonstruktionen und Alterungsverfahren, das sogenannte Aging.
Was genau ist das?
Wenn ein Schädel gefunden wird, muss ich davon ausgehend das Gesicht modellieren. Dafür gibt es Tabellen mit Landmarken für die Gesichtsweichteildicke, also Marker, die anzeigen, wie tief das Gewebe an den bestimmten Stellen am Schädel ist. An der Wange ist z.B. mehr Gewebe als auf der Stirn, außerdem unterscheidet sich die Gewebstiefe je nach Geschlecht, Alter, Herkunft und so weiter. So entsteht nach und nach auf dem Schädel wieder ein Gesicht. Dann ist da noch das sogenannte Aging. Wenn ein Mensch seit mehreren Jahren vermisst wird, lasse ich ihn anhand früherer Fotos künstlich altern. Ein Kind, das seit zehn Jahren verschwunden ist, sieht mittlerweile ja ganz anders aus. Die Proportionen verändern sich. Je erwachsener man wird, desto länger wird die Nase, die Augenhöhlen werden offener, das Gesichtsfeld ist nicht mehr so eng. So können wir nach lange vermissten Personen suchen. Das Aging habe ich allerdings nicht beim FBI gelernt, sondern an einer Universität von Tampa.
Wie erstellt man ein Phantombild?
Zunächst muss ich eine Verbindung zum Opfer, dem Zeugen oder der Zeugin aufbauen. Wir begrüßen uns, ich biete einen Kaffee an, wir unterhalten uns ein wenig. Ich erkläre den Ablauf der Erstellung, um damit auch ein wenig Anspannung aus der Situation zu nehmen. Dann lasse ich mir das Aussehen des Täters oder der Täterin beschreiben. Viele Menschen sind überrascht, dass ich nicht mit Stift und Zettel vor ihnen sitze. Mittlerweile wird werden Phantombilder nämlich am PC erstellt. Wir haben in Hessen eine Software, die einen neutralen, dreidimensionalen Kopf zeigt. Mit der Software kann ich in Sekundenschnelle das Aussehen verändern – das Gesicht breiter oder schmaler, die Augen größer, der Mund kleiner, die Mimik anders. So merkt der Zeuge oder die Zeugin auch, dass man ausprobieren kann. Denn manchmal fehlen tatsächlich auch die Worte, um ein erinnertes Gesicht richtig zu beschreiben. Ich kann die Perspektive und die Lichtverhältnisse einstellen, die der Zeuge gesehen hat, und arbeite dann die ersten Vorgaben ein. Dann zeige ich dem Zeugen das Bild, und oft ist die Reaktion: Nein, so kann es nicht bleiben, so hat er nicht ausgesehen. Das ist der Weg zum Bild: Die Zeugen sehen ein Gesicht, das dem Täter noch nicht ganz ähnlich ist, von dort aus tasten wir uns ans Täteraussehen heran.
Manche der Zeugen haben gerade ein traumatisches Erlebnis hinter sich. Wie ist die Arbeit mit diesen Menschen?
Ich merke schnell, ob die Person gut mit der Situation umgehen kann. Und es herrscht kein Zwang bei mir, niemand muss ein Phantombild erstellen. Ich werde auch anders wahrgenommen als ein Polizist, es ist keine Vernehmung. Aber es können durchaus psychologisch schwierige Situationen entstehen. Die Zeugen wollen den Täter ja eigentlich nicht mehr sehen. Umso wichtiger ist es, behutsam mit der Person umzugehen. Ich will auf keinen Fall, dass wiederholt traumatisiert wird. Trotzdem passiert es, dass Menschen weinen oder zittern, wenn sie auf dem Phantombild den Täter wiedererkennen. Dann machen wir eine Pause. Ich erinnere mich an eine Frau, die Herzprobleme bekam. Ich musste den Notruf wählen.
Wie ist denn die Erfolgsquote Ihrer Bilder?
Es muss viel zusammenkommen. Der Zeuge muss sich erinnern, das Bild muss passen, und dann muss auch noch die richtige Person hinschauen und den Täter wiedererkennen. Das ist dann schon ein Glückstreffer. Aber grob gesagt, haben wir Phantombildzeichner eine Erfolgsquote von 25 Prozent.
»Ein Phantombild ist immer nur ein Mittel, die Ermittlungen voranzutreiben«
Auch der Fall Ihres Lebens hat mit einem Phantombild zu tun. Worum ging es?
Ich erstelle etwa 150 Phantombilder im Jahr, meist endet der Fall für mich mit dem fertigen Bild. Aber dieser Fall war anders. Das Opfer war ein junger Mann, der nach einem Fußballspiel ein örtliches Fest besuchte. Beim Verlassen des Festgeländes traf er auf den späteren Täter, es gab einen kurzen Wortwechsel. Das Opfer ging eine Treppe herunter, der Täter folgte ihm und griff ihn von hinten brutal an. Er schlug das Opfer mit dem Kopf gegen die Wand, wobei sich das Opfer das Genick brach. Der junge Mann ist seitdem querschnittsgelähmt und wird den Rest seines Lebens Hilfe benötigen. Der Fall erfuhr großes mediales Interesse. Und ich wurde angefordert, das Phantombild zu erstellen – ein Jahr nach der Tat.
Warum so spät?
Weil der junge Mann so lange im Krankenhaus lag. Es dauerte ein Jahr, bis er in der Lage war, mit mir das Bild zu erstellen. Üblicherweise weiß ich nur grob über den Fall Bescheid, hier war es anders. Ich bin mit größtem Respekt ins Krankenhaus gefahren, weil ich nicht wusste, was mich erwartet. Als ich in sein Zimmer kam, lag der Mann im Bett. Ganz schmal, sprechen konnte er nur über eine Kehlkopfschalte. Und ich war sehr erstaunt von ihm. Man stellt sich ja vor, dass man aus dem Trauern, dem Weinen gar nicht mehr herauskommen würde, sollte einem selbst so etwas Fürchterliches passieren. Aber er wirkte auf mich ganz anders. Sehr stabil, den Umständen entsprechend richtiggehend frohen Mutes, was wahrscheinlich an seiner nahenden Entlassung lag. Dieser Lebensmut hat mich sehr berührt.
Hat er sich nach einem Jahr noch an den Täter erinnert?
Eine solche Tat brennt sich ein, da spielt Zeit nicht unbedingt eine Rolle. Er konnte sich gut erinnern, ist nicht zurückgewichen, brauchte keine Pausen, hat unbeirrbar das Bild mit mir gemacht. Ich habe immer zwei Bildschirme, einen, an dem ich zeichne, einen, an dem der Zeuge das Bild sieht. Den stellte ich ihm aufs Krankenbett, meinen behielt ich auf dem Schoß. Nach anderthalb Stunden waren wir fertig: blonde Haare, rundliches Gesicht, die Perspektive leicht von der Seite.
Hat Ihr Phantombild dazu geführt, dass der Täter gefasst wurde?
Ein Phantombild ist immer nur ein Mittel, die Ermittlungen voranzutreiben. Hinter vielen Festnahmen stehen ein großes personelles Aufgebot verbunden mit entsprechendem Aufwand der Behörde. In diesem Fall war es so, dass der Täter schon lange im Visier der Polizei war, aber kein Zeuge wollte sich äußern. Schließlich griff die TV-Serie »Aktenzeichen XY« den Fall auf, sie nutzten auch mein Phantombild. Ich saß zuhause und sah mir die Folge an, es war ein ganz eigenes Gefühl, mein Phantombild zu sehen – es erinnerte mich wieder an das Opfer, den jungen Mann. Am Tag nach der Ausstrahlung gab es eine Vielzahl an neuen Hinweisen. Und endlich auch Zeugenaussagen, die den Täter belasteten. Er wurde verhaftet und zu elf Jahren Gefängnis verurteilt.