SZ Magazin: Herr Miersch, in welchem Beruf kann man mehr bewegen: als Politiker oder Anwalt?
Matthias Miersch: In den ersten Jahren als Bundestagsabgeordneter stellt sich manchmal etwas Ernüchterung ein. Da sind es eher die kleinen Stellschrauben, an denen man dreht. Mittlerweile bin ich stellvertretender Fraktionsvorsitzender, da ist spürbar mehr möglich. Meiner Erfahrung nach muss man als Politiker oder Politikerin den Erfolg auf lange Sicht betrachten, weil die Prozesse hin und wieder sehr lang dauern. Als Anwalt hat man im besten Fall unmittelbare Erfolgserlebnisse – wenngleich sich Prozesse auch hier ziehen können.
Der Fall Adis Ahmetovic hat Ihren beruflichen Werdegang geprägt, sowohl als Jurist als auch als Politiker. Erzählen Sie uns mehr darüber.
1997 habe ich meine Zulassung als Anwalt bekommen, davor habe ich mein Referendariat in einer Kanzlei durchlaufen, die einst von Gerhard Schröder mitgegründet worden ist. 1998 stand plötzlich Familie Ahmetovic mit ihrem vierjährigen Sohn Adis und seinem Bruder bei mir im Büro und bat mich um Hilfe. Zu der Zeit war der Balkankrieg aus Sicht der Regierung eigentlich entschärft, man begann mit der Rückführung der Geflüchteten. Auch Familie Ahmetovic sollte zurück in den Nordbalkan abgeschoben werden. Ausländerrecht war nicht mein Spezialgebiet, ich hatte mich mehr auf Strafrecht fokussiert, doch dem Fall wollte ich mich trotzdem annehmen.
Sie waren damals recht neu im Job. Woher hatten Sie das Selbstbewusstsein, solch einen Fall zu übernehmen?
Ich war damals schon ein selbstsicherer Mensch und hatte kein Problem damit, den Mund aufzumachen. Trotzdem hatte ich Respekt vor der Aufgabe. Adis Mutter war aufgrund der Kriegserlebnisse psychisch angegriffen. Die Abschiebung zurück in das ehemalige Krisengebiet wäre für sie ein Desaster geworden, das merkte man der ganzen Familie an. Für mich bedeutete das eine enorme Verantwortung für vier Menschenleben. Ich hatte Angst, dass ich etwas übersehe oder einen formalen Fehler mache. Innerlich war ich deshalb sehr angespannt. Ich wusste, dass ich hart und sehr genau arbeiten musste.
Welche Hürden gab es bei dem Fall?
Der Knackpunkt war die damalige Härtefallregelung in Niedersachsen. Die Familie besaß wegen ihrer Fluchtgeschichte aus meiner Sicht die Rechtfertigung, in Deutschland zu bleiben. Das sah die Landeshauptstadt Hannover anders, mein Antrag wurde nicht angenommen. Alle Atteste über die Psyche und sonstigen Beweise, die ich vorlegte, wurden nicht akzeptiert. Kurz darauf wurde eine Ausreiseaufforderung nebst Abschiebeandrohung ausgesprochen. Das war das Schlimmste, was uns an dieser Stelle passieren konnte. Ich weiß noch, wie der Brief in meinem Büro eintraf. Ich bat Familie Ahmetovic zu mir, die Mutter von Adis stand kurz vor dem Zusammenbruch. Sie war und ist ein herzensguter Mensch. Es war schlimm für mich anzusehen, wie alle Hoffnung vor ihren Augen zerfiel. Ich legte Widerspruch ein, zog vor das Verwaltungsgericht und veranlasste einen einstweiligen Rechtsschutzantrag. Es wurden Schriftsätze hin- und hergewechselt. Schließlich kam von der Kammer ein Hinweisbeschluss, dass die Familie bleiben darf.
Die gesamte Prozedur dauerte von 1998 bis 2001. Woher hatten Sie das Durchhaltevermögen?
Als Anwalt hat mich Hela Rischmüller-Pörtner geprägt, die leider viel zu früh verstorben ist. Mit Hela habe ich bereits früh zusammengearbeitet, zuletzt waren wir Partner in unserer gemeinsamen Kanzlei. Sie scheute keine noch so harten Fälle und betonte stets den Wert der Rechtsstaatlichkeit, nach der jeder Mensch ein gerechtes Verfahren verdient. Als Anwältin verteidigte sie deshalb auch unter anderem RAF-Mitglieder und Frauen vor Gericht, die ihre Kinder getötet hatten. Sie sagte immer zu mir: Wir müssen alles geben und man muss sich als Anwalt an jeder Stelle fragen, ob man sich maximal für den Mandaten engagiert hat. Nur dann habe man seinen Job richtig gemacht. Anwalt sein bedeutet nicht nur Akten zu lesen, sondern auch Sozialarbeiter und Therapeut sein.
2008 hielten Sie einen Neumitgliederabend für die SPD in Hannover ab. Der Abend wurde zur Überraschung.
Tatsächlich. Plötzlich stand jemand vor mir, der sich als Adis vorstellte. Erst beim Nachnamen klingelte es. Ich hatte die Familie Ahmetovic seit dem Abschluss des Falls nicht mehr gesehen. Als Adis der Familie meine Grüße ausrichtete, lud sie mich gleich zum Essen bei sich ein. Wir aßen gemeinsam und hatten einen geselligen Abend. Es war ein wunderbares Wiedersehen. Seitdem haben wir uns nicht mehr aus den Augen verloren.
Wie ging es politisch für Sie und Adis Ahmetovic weiter?
Adis ist wenig später Juso-Chef in der Region Hannover geworden, als ich dortiger Parteivorsitzender war. Wir konnten gemeinsam sogar einige politische Erfolge durchsetzen, zum Beispiel die Jugendnetzkarte in der Region Hannover. Als Adis mich fragte, ob er seinen Hut in den Ring werfen solle für den Bundestag, ermutigte ich ihn dazu. Schließlich konnte er seinen Wahlkreis auch direkt gewinnen. Es war ein unbeschreiblicher Moment, als Adis und ich das erste Mal im Plenarsaal nebeneinandersaßen. Emotional verbindet uns viel. Die ganze Vorgeschichte, die Sympathie zueinander. Ich respektiere Adis dafür, wie weit er gekommen ist und bin dankbar für die Erfahrung, die wir zusammen machen durften.
Fälle wie jener von Adis Ahmetovic gehen an die Substanz. Wie schalten Sie ab?
Mein Partner hat beruflich zum Glück nichts mit Politik zu tun. Wenn er von seinem Job erzählt, komme ich auf andere Gedanken, das hilft. Ansonsten verreisen wir beide regelmäßig mit unserem Campingbus nach Skandinavien oder Südfrankreich.
Sind Sie noch immer als Anwalt tätig?
Meine Arbeit als Anwalt ruht seit meinem Einzug in den Bundestag. Trotzdem besuche ich weiterhin Fortbildungskurse und bin noch Teilhaber einer Kanzlei, damit ich jederzeit zurückgehen könnte in diesen Beruf.
Was muss man als Anwalt besonders gut können, was als Politiker?
Es gibt viele Ähnlichkeiten in beiden Berufen: Ehrlichkeit und Empathie sind extrem wichtig und man muss seinen Job als Berufung empfinden. Ich würde weder als Anwalt noch als Politiker um Punkt 18 Uhr aufstehen und Feierabend machen, wenn es noch etwas zu tun gibt. In beiden Positionen vertritt man Menschen und setzt sich für deren Rechte ein. In der Kanzlei saß ich zum Beispiel oft bis spät nachts am Schreibtisch und habe Fälle vorbereitet, im Bundestagsbüro gibt es kein Schreiben von Bürgerinnen und Bürgern aus meinem Wahlkreis, das ich nicht persönlich beantworte.
Und worin unterscheiden sich die Jobs?
Die Arbeit als Bundestagsabgeordneter ist viel abstrakter als die eines Anwalts. Nehmen Sie die Arbeit an einem Gesetz: In der Politik ist das erstmal eine Art allgemeine Regel, die für viele Gruppen gilt. Als Anwalt ist die Wirkung dieses Gesetzes unmittelbar: Man spürt die konkreten Auswirkungen auf die Menschen, die Erfolge und Misserfolge, und wie ein Urteil jemanden treffen und sein ganzes Leben verändern kann.