»Als Kind wusste ich nicht: Darf ich hier von mehr träumen?«

Einst lebte Aminata Touré in der Flüchtlingsunterkunft Neumünster, heute ist sie 28 und die jüngste Vizepräsidentin eines deutschen Landtags – und die erste afrodeutsche. Welche Hürden musste sie überwinden?

Aminata Touré, grüne Vizepräsidentin des Landtags von Schleswig-Holstein, ist 28 – noch bis zum 15. November. Ihr Buch »Wir können mehr sein – Die Macht der Vielfalt« hat es es gerade in die Top 10 der »Spiegel«-Bestsellerliste geschafft.

Marcus Brandt/dpa/picture alliance

SZ-Magazin: Wie ist es, 28 zu sein?
Aminata Touré:
Das war bisher auf jeden Fall das krasseste Jahr meines Lebens. Ich habe mein erstes Buch geschrieben. In Schleswig-Holstein bereiten wir uns auf die Landtagswahl 2022 vor. Und zwischendurch war jetzt Bundestagswahl. Da zerrten einige an mir.

Inwiefern?
Ich habe vor der Listenaufstellung zur Bundestagswahl viele Nachrichten bekommen, aus der Partei und der Zivilgesellschaft, dass ich für Berlin kandidieren soll. Für mich ist die wichtigste Frage: Wo kann ich am meisten erreichen? Und als Regierungsfraktion konnten wir aus Schleswig-Holstein schon viele Impulse setzen. Das möchte ich weiter gestalten. Außerdem: Als junge, migrantische Frau oder überhaupt als atypische Person im Politikbetrieb musst du aufpassen, dich nicht instrumentalisieren zu lassen. Deswegen frage ich mich vielleicht mehr als andere: Was will ich wirklich? Und achte darauf, eigenständig zu entscheiden, wie es für mich weitergeht. Mein Standpunkt ist: Es braucht in der Politik viel mehr Menschen, die vielfältig sind. Also will ich nicht alles selber machen.

Zeit des Aufbruchs

Oft wendet sich das Leben einer Frau im Alter von 28 Jahren entscheidend. Gretchen Dutschke und andere prominente Frauen erzählen. Hier gelangen Sie zu allen Protokollen und Interviews aus dem neuen Frauenheft.

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Aber dieses Buch – es heißt: »Wir können mehr sein – Die Macht der Vielfalt« – wollten Sie nebenher noch machen.
Aus zwei Gründen. Ich wollte die politischen Ziele, die mich antreiben, einmal ausführlich und für alle verständlich erklären: mein Wunsch nach einer diverseren Gesellschaft. Mein Eintreten für Antirassismus und Kids, die in Armut aufwachsen. Und zweitens wollte ich die Hoheit über meine eigene Geschichte zurückgewinnen. Ich werde so oft von außen beschrieben, und die Leute denken: Oh, dieses arme Flüchtlingskind! Einerseits waren das wirklich schwere Startbedingungen. Aber andererseits hatte ich in der Flüchtlingsunterkunft eine voll schöne Zeit. Diese vermeintlichen Widersprüche wollte ich erzählen. Mit autobiografischen Einblicken, die ich sonst nicht gebe. Es ist ein Sachbuch, aber ich habe auch lyrische Texte von mir dazugestellt.

Der eindrücklichste handelt von Ihrem Vater.
Bis eine Woche vor dem Druck habe ich überlegt, ob ich den drinlasse. Ich spreche eigentlich nicht über meinen Vater. Weil er uns einfach verließ, als ich zwölf war. Das ist mir zu intim für Talkshows. Aber in der Logik des Buches musste das Gedicht rein. Es heißt Der fehlende Vater und beschreibt die Szene, in der er geht. Mehr muss ich dazu nicht sagen. Weil es genau dieses Gefühl ist, das zu mir gehört. Meine Schwestern und meine Mutter waren einverstanden.

Ihre Mutter hat auch einen Text für das Buch verfasst.
Das war wichtig, um zu zeigen, wie unterschiedlich unsere Perspektiven auf dieses Land sind. Als sie in meinem Alter war, waren meine Eltern gerade aus Mali geflohen. Und doch wusste ich als ihr Kind viele Jahre lang nicht: Darf ich hier noch von mehr träumen? Darf ich Teil dieser Gesellschaft sein? Ich stand vor vielen verschlossenen Türen. Jetzt habe ich die deutsche Staatsbürgerschaft, bin Vizepräsidentin eines Landtags – nun stehen die Türen so weit offen, dass mir die Möglichkeiten Respekt einhauchen.

Was machen Sie in zehn Jahren?
Mein Beruf bringt es leider mit sich, nur bis zur nächsten Wahl zu denken. Ich habe mich entschieden, für eine weitere Legislaturperiode zu kandidieren. Das war nicht immer klar für mich. Ich weiß, dass der Tag kommen wird, an dem ich etwas anderes sehen muss als Politik. Ich mache das nicht vierzig, fünfzig Jahre lang.

Wie alt fühlen Sie sich?
38 vielleicht? Ich habe mich immer älter gefühlt, als ich war. Mit der Angst, abgeschoben zu werden, altert man schneller. Und in der Politik sowieso.