Der richtige Name des hier interviewten Weihnachtsmanns Claudius ist geheim, ebenso sein richtiger Wohnort (jenseits von Lappland, natürlich). Claudius arbeitet seit über drei Jahrzehnten als Weihnachtsmann, lange Zeit davon parallel zu seinem bürgerlichen Beruf in der Wirtschaft.
SZ-Magazin: Sie sind seit 36 Jahren professioneller Weihnachtsmann. Wie kam es dazu?
Weihnachtsmann Claudius: Ich besuchte damals einen Weihnachtsmarkt in Husum, wo so ein Möchtegern-Weihnachtsmann engagiert war. Ich war bereits Vater von zwei kleinen Jungs, die waren glücklicherweise nicht dabei. Denn dieser Weihnachtsmann war gruselig. Ein langer dünner Filz-Mantel, grüne Gummistiefel, die aussahen, als sei er gerade aus dem Wattenmeer gekommen, dazu eine unheimliche Halbmaske mit Wattebart. Aber das Schlimmste war, dass er sich die ganze Zeit mit einer Rute in die Hand schlug und damit vorbeilaufenden Kindern drohte.
Ui.
Zum Davonlaufen. Dieses Erlebnis hat mich bis tief in die Nacht beschäftigt. Ich war kein übermäßig weihnachtsaffiner Mensch, aber den Weihnachtsmann kannte ich aus meiner Kindheit anders. Gütig, warmherzig. Ich lag wach und fragte mich: Geht das nicht besser?
Was passierte dann?
Ich bin am nächsten Tag in die Bücherei gegangen und habe mir sämtliche Bücher über den Weihnachtsmann ausgeliehen. Ich las Hans Christian Andersen, Theodor Storm und viele andere. Und entdeckte, dass der Weihnachtsmann schon 1770 erstmals in einer Berliner Wochenzeitung erwähnt worden war.
Keine Erfindung von Coca Cola also?
Nein, Cocalores, sage ich immer. Coca Cola hat vielleicht zur Verbreitung beigetragen, mehr aber nicht. Nach der Lektüre erstellte ich ein vierseitiges Konzept, eine Art Drehbuch, wie ein Weihnachtsmann auftreten müsste. Dann habe ich mir ein Outfit von einem Kostümfachhändler besorgt, Kleinanzeigen geschaltet und 1985 die ersten Familien besucht. Ich war BWL-Student, zunächst war das als Zubrot gedacht. Aber am Weihnachtsabend 1985 war mir klar: Das ist mehr als ein Studentenjob. Denn nicht nur die Kinder bekamen von mir Geschenke, vor allem bekam ich Geschenke von den Kindern. Die leuchtenden Augen, die Freude und Dankbarkeit.
Wie sind Sie ausgestattet?
Das ist mit der Zeit professioneller geworden. 1999 war ich zum ersten Mal beim World Santa Claus Congress in der Nähe von Kopenhagen, ein Treffen von professionellen Weihnachtsmännern und –kobolden sowie deren Frauen und Kindern, das es seit den Sechzigern gibt. Sie vergnügen sich dort jeden Juli, halten eine Parade samt Weihnachtsmannkapelle ab, werden beim Oberbürgermeister empfangen und diskutieren miteinander, etwa über eine mögliche EU-Verordnung zur Vereinheitlichung der Fußbekleidung der Weihnachtsmänner, die Größe der Weihnachtsgeschenke oder die Verteilung der Rentiere am Weihnachtsabend. 1999 hatte ich noch mein Kostüm aus dem Kostümhandel an, aber nach dem Kongress war das Geschichte.
»Der Weihnachtsmann ist eine mystische Gestalt und muss sich entsprechend kleiden«
Inwiefern?
Als ich wiederkam, ging ich zu einer Schneidermeisterin, zeigte ihr ein Foto vom Kongress und sagte: Das möchte ich auch haben. Sie fertigte mein Gewand nach einem traditionellen nordischen Schnittmuster, aus zehn Metern Langhaarfell, fünfeinhalb Metern Flanell und drei Metern Seidenfutter, für einen vierstelligen Betrag. Hinzu kommt noch meine Brille aus den 1920er-Jahren, eine Optikerin hat sie für mich aufbereitet. Meine Lampe ist ein Nachbau einer Weihnachtslaterne aus dem Erzgebirge aus dem 19. Jahrhundert. Der Weihnachtsmann ist eine mystische Gestalt und muss sich entsprechend kleiden. Das haben wir auch in unserem Kodex festgehalten.
Es gibt einen Weihnachtsmann-Kodex?
Ja. Ich bin im Netzwerk Weihnachten, ein Zusammenschluss professioneller Weihnachtsmänner und -agenturen, in dem wir 2008 einen »Ehrenkodex des Weihnachtsmannes« fixiert haben. Auch ich habe von Familien immer wieder Geschichten über Weihnachtsmänner gehört, die sich Mut antrinken müssen, bevor sie vor die Kinder treten, oder eine Rute dabeihaben oder keine weißen Handschuhe oder, oder, oder. Das geht alles nicht. Wir haben deswegen Verhaltensregeln aufgestellt.
Welche denn?
Der Weihnachtsmann strahlt Güte und Harmonie aus, ist großzügig und freundlich zu allen, isst, trinkt, raucht und telefoniert nicht im Kostüm, kennt Gedichte, Geschichten und Weihnachtslieder, flucht nie, um nur ein paar zu nennen. Und eben auch eine Kleidungsetikette: Rotweißer Mantel oder Jacke, schwarze oder rote Hose, Goldenes Buch und noch mehr. Und vor allem: keine Rute. Es gibt ja seit 2000 auch eine eindeutige Gesetzeslage, nämlich das Recht jedes Kindes auf gewaltfreie Erziehung. Rhetorik statt Rute, sage ich schon immer.
Sie haben lange hauptberuflich in der Wirtschaft gearbeitet. Wie passte das zusammen?
Ich habe das immer strikt voneinander getrennt. Man kann nach Weihnachten süchtig werden, da muss man eine Distanz aufbauen. Als Weihnachten letztes Jahr für viele Kollegen ausfiel, konnten einige damit nicht so gut umgehen. Im echten Leben war ich zuletzt als Unternehmensberater selbstständig tätig, da konnte ich die Zeit besser steuern. Im Dezember habe ich mir immer Urlaub genommen, obgleich die Weihnachtssaison bei mir bereits am 24. August losgeht. Dann bekommen die Familien aus dem Vorjahr Post von mir, sie haben dann ein Vorrecht bis zum 3. Oktober, um mich erneut zu buchen. Anschließend greift die Warteliste. Die wird übrigens immer länger, wir haben Nachwuchsprobleme bei den Weihnachtsmännern. Stehen die Termine fest, geht es in die Vorgespräche.
Wofür braucht es Vorgespräche?
Ich rede vor meinem Auftritt ausführlich mit den Eltern. So möchte ich möglichst viel über die Kinder erfahren. Denn jedes Kind hat seine eigene Geschichte, die zunächst verstanden sein will. Die Hobbys, die Namen der Freunde und Kuscheltiere, soziales Verhalten, was im Jahr passiert ist und vieles mehr. Das alles übernehme ich in mein Goldenes Buch, das ich zu meinem Auftritt dann mitbringe. Dann beginnt für mich der Wettbewerb der Glaubwürdigkeit. Um darin bestehen zu können, muss ich nicht nur viel über ein Kind wissen. Dabei geht auch um kleine Details, wie beispielsweise das Geschenkpapier, das niemals im Beisein der Kinder gekauft werden darf. Sonst ist die Glaubwürdigkeit leicht dahin. Denn logischerweise hat der Weihnachtsmann eigenes Geschenkpapier.
Wie läuft der Auftritt ab?
Ein Auftritt dauert zwischen 15 und 30 Minuten. Vorher schicken mir die Kinder ihren Wunschzettel, ich schreibe kurz vor Weihnachten jedem Kind zurück, wann ich komme. Die Eltern bekommen beim Vorgespräch einen Jutesack von mir, den sie mit zwei oder drei der Geschenke füllen und so abstellen, dass ich ihn aufnehmen kann. Wenn es dann soweit ist, erkennt man mich an meinen Schellen an den Stiefeln und dem typischen Weihnachtsmann-Klopfen, dreimal mit zwei kurzen Pausen. Klingeln tue ich übrigens nicht, ich bin ja nicht der Postbote. Meist steht für mich ein Stuhl am Weihnachtsbaum bereit, ich stelle den Geschenkesack ab und berichte von meiner beschwerlichen Anreise. Als nächstes erzähle ich eine Geschichte, die ich vor einigen Jahren mit einer Erzieherin entwickelt habe, und stelle dabei auch Fragen, zum Beispiel zu meinen Rentieren. Dann überreiche ich dem Kind etwas, das in dieser Geschichte vorkommt und dadurch einen besonderen Wert erhalten hat.
Was denn?
Das wird hier nicht verraten, das wissen auch die Eltern vorher nicht. Das ist eines der vielen Geheimnisse, die den Weihnachtsmann umgeben. Dann nehme ich mein Goldenes Buch zur Hand und anhand meines Wissens aus dem Vorgespräch rekapituliere ich noch einmal die besonderen Geschehnisse im Leben des Kindes in dem jeweiligen Jahr. Hat es ein Schwimmabzeichen gemacht, hat es sich um seine Geschwister gekümmert, was war in der Schule los? Dann werden die Weihnachtslieder und -gedichte oder Instrumentales angehört. Auch das schrägste Blockflötenspiel bringt mich nicht aus der Ruhe. Und anschließend kommen die Geschenke. Zum Abschluss gibt es noch ein Foto, und dann zieht der Weihnachtsmann zur nächsten Familie.
Wie viele Kinder besuchen Sie am 24.?
Ungefähr15, der Tag geht von 12 Uhr mittags bis abends um 20 Uhr. Weswegen ich auch nur Anfragen annehmen kann, die sich logistisch sinnvoll in meine Route einpassen lassen. Abseits der privaten Besuche gibt es auch noch öffentliche Auftritte, Weihnachtsmärkte oder Betriebsfeiern.
Erinnern Sie sich an einen besonderen Fall?
Es gab so viele. Einmal hat mir ein kleines Mädchen einen Heiratsantrag gemacht. Oft wurde es auch sehr emotional, wenn es zuvor in der Familie einen Todesfall gegeben hatte. An eine Begebenheit aus meinem zweiten Jahr als Weihnachtsmann erinnere ich mich aber noch heute sehr genau. Ich besuchte eine Familie zum Vorgespräch, und als wir über die Geschenke sprachen, herrschte plötzlich betretenes Schweigen. Das Kind, nennen wir sie Linda, hatte sich ein rosafarbenes Fahrrad gewünscht. Aber der Familie ging es finanziell schlecht, die berufliche Situation des Vaters hatte sich verschlechtert. Und es war klar, dass es kein Fahrrad würde geben können. Die Mutter eröffnete mir, dass Linda, sieben Jahre alt, um die Situation wusste, nicht mit vielen Geschenken rechnete und ihren Eltern gesagt hatte, ihr größter Wunsch sei sowieso, einmal dem Weihnachtsmann zu begegnen. Ein typischer Wunsch vieler Kinder in jenem Alter.
»Mein Bart war nass von den Tränen. Die Bescheidenheit dieses Kindes hat mich wirklich im Herzen berührt«
Wie ging es weiter?
Einen Tag vor Heiligabend bekam ich einen Anruf. Der Vater war am Telefon und erzählte mir voller Freude, dass er ein gebrauchtes, rosafarbenes Fahrrad aufgetrieben hatte, das fast wie neu aussah und das er sich hatte leisten können, und wir verabredeten, dass er es im Hausflur aufstellen würde. Ich kam also an Heiligabend zur Familie und Linda freute sich sehr. Es gab eine Weihnachtstüte aus meinem Jutesack, gefüllt mit Nüssen, Mandarinen und ein wenig Schokolade. Nicht viel, aber als ich Linda fragte, ob sie zufrieden sei, war sie ganz tapfer und bejahte, denn ihr Wunsch, den Weihnachtsmann zu treffen, war ja in Erfüllung gegangen.
Und das Fahrrad?
Ich fragte sie, ob sie mir kurz helfen könne. Sie nahm meine Hand und gemeinsam gingen wir in den Hausflur. Sie konnte es überhaupt nicht fassen, sprang von einem Bein aufs andere, kriegte sich gar nicht mehr ein und fragte mich immer wieder, ob das Fahrrad auch wirklich für sie sei. Den Eltern liefen die Tränen, und mir verschlug es die Sprache. Heute kann ich mit solchen Situationen routinierter umgehen, aber damals war ich froh, als ich kurz darauf die Wohnung verließ. Draußen musste ich erst einmal tief durchatmen. Mein Bart war nass von den Tränen. Die Bescheidenheit dieses Kindes hat mich wirklich im Herzen berührt. Das war symbolisch für die wahre Bedeutung von Weihnachten.
Nun steht das zweite Weihnachten unter Coronabedingungen an. Wie war es letztes Jahr?
Es klingt komisch, aber das Corona-Weihnachten war mit das schönste Weihnachten der letzten Jahre. Dabei waren die Vorzeichen natürlich ganz andere. Ich hatte ein vierseitiges Hygienekonzept, die Familien mussten zehn Minuten vor meiner Ankunft querlüften, und wenn ich dann da war, blieb die Terassentür auf, damit ein Luftaustausch stattfand. In einem Antiquariat in Hamburg hatte ich einen über 50 Jahre alten Hörnerschlitten gefunden und ihn in knapp 80 Stunden restauriert. Den stellte ich im Abstand von einem Meter fünfzig vor mich, als eine natürliche Barriere, und darauf wurden dann die Geschenke gelegt. Vor Weihnachten ging ich zehn Tage in Quarantäne und machte einen PCR-Test. Und bei den Besuchen selbst wurde dann nicht eine Sekunde über Corona geredet.
Was hat das Corona-Weihnachtsfest so schön gemacht?
Es waren zwei Dinge. Einmal war der Familienkreis kleiner, es war intimer, hier im Norden sagt man: hyggelig. Gemütlich. Und hinzukam: Die Kinder hatten durch die Pandemie sehr gelitten. Umso dankbarer waren sie um den Besuch des Weihnachtsmannes. Die Kinderwünsche in 2020 haben mir sehr weh getan. »Lieber Weihnachtsmann, mach, dass alle gesund bleiben. Mach, dass wir bald wieder zur Schule gehen können. Dass wir unsere Freunde bald wiedersehen können. Mach, dass Corona vorbei geht.« Solch große Mächte hat jedoch auch der Weihnachtsmann nicht.