Das Problem: Seit Ende des Lockdowns sind viele Tierheime überfüllt, weil viele Familien die eben adoptierten »Pandemie-Hunde« zurückgeben.
Die Lösung: Die Hunde ins Gefängnis schicken.
Eines schien für Jon Grobman festzustehen: Er würde zeitlebens nie wieder in Freiheit kommen. Im Jahr 2005 war der ehemalige Hotel- und Casino-Manager in Kalifornien zu 190 Jahren hinter Gittern im Hochsicherheitsgefängnis von Lancaster verurteilt worden, ohne die Möglichkeit zur vorzeitigen Freilassung. »Diebstahl, Unterschriftenfälschung, Raub, Betrug«, zählt er routiniert die Straftaten auf, mit denen er seine Drogensucht finanzierte. »Ich war nie gewalttätig, aber als Wiederholungstäter gab mir der Richter für jedes einzelne der sechs Vergehen lebenslänglich.«
Inzwischen lebt er seit knapp vier Jahren mit seiner Familie in der Weinregion des Napa Valley. Der 54-Jährige ist der erste lebenslang verurteilte Straftäter in Kalifornien, der einen kaum bekannten Paragrafen nutzen konnte, um freizukommen; den sogenannten »Recall of Commitment«, der »außergewöhnlichen Menschen« zur Freiheit verhilft, weil sie zum »Gemeinwohl« beitragen. Dabei verdankt Grobman seine Freiheit vor allem einem Hund: Oreo, einem schwarz-weiß gefleckten Labrador-Pitbull-Mischling.
Oreo war der erste Hund, der 2014 ins Hochsicherheitsgefängnis von Lancaster durfte. In dem Jahr hatte die in Kalifornien lebende Britin Alex Tonner die Idee, Hunde aus den völlig überfüllten staatlichen Tierheimen zeitweise in Gefängnissen unterzubringen, um sie vor dem Tod zu retten. Der Grund: Jedes Jahr landen 6 Millionen Hunde und Katzen in den Vereinigten Staaten in Tierheimen, und viele schaffen es nicht mehr lebendig heraus. Eine knappe Million Hunde und Katzen werden jährlich eingeschläfert, weil sie kein Zuhause finden. Das ist zwar eine Million weniger als noch vor zehn Jahren, doch die Tötungsrate ist im Vergleich zu anderen Industrienationen immer noch extrem hoch. »Ich wollte einfach nur die Hunde retten«, sagt Tonner. »Die Gefängnisinsassen waren mir ehrlich gesagt egal.«
2014 gründete Tonner deshalb die gemeinnützige Organisation Paws for Life K9 Rescue und brachte die ersten fünf Hunde in das Hochsicherheitsgefängnis von Lancaster bei Los Angeles. Ihr Plan: Die Gefängnisinsassen sollten sich mindestens sechs Wochen lang um einen Hund aus einem Tierheim mit hoher Tötungsrate kümmern und ihm mit Hilfe eines professionellen Hundetrainers Grundkommandos beibringen, um ihn adoptierbarer zu machen. Zuerst wollte Grobman gar nicht daran teilnehmen, aber weil sich nicht genügend Interessierte fanden, machte er doch mit. »Wir glaubten alle nicht, dass wirklich Hunde ins Gefängnis durften«, erinnert sich Grobman. »Doch dann änderte sich alles schlagartig, als die ersten Hunde hier ankamen.«
»Mit dieser Einstellung kam ich ins Gefängnis: Ich bin wertlos. Der Hund gab mir plötzlich einen Sinn«
Jon Grobman
Oreo, sein erster Schützling, biss ihn zwar gleich mehrmals, »aber da hatte ich schon zu viel Freude daran, einen Hund zu haben. Das Gefängnis ist brutal, du bist nur eine Nummer. Ein Hund aber fragt nicht, welches Verbrechen du begangen hast«. Grobman sieht man sogar im Zoom-Videotelefonat die Emotionen an, wenn er sich an diese erste Begegnung erinnert. »Die meisten in Lancaster sitzen lebenslänglich und haben seit 20 oder 30 Jahren keinen Hund mehr gesehen. Diese unbedingte Liebe eines Hundes zu spüren, das war mein Wendepunkt. Vor zehn Jahren war ich das Tier und verdiente keine zweite Chance.« Der Richter, der ihn verurteilte, habe ausdrücklich gesagt, »er glaube nicht, dass aus mir je was werden würde. Wenn er eine Möglichkeit zur Rehabilitation sähe, würde er mir nicht diese harte Strafe geben. Mit dieser Einstellung kam ich ins Gefängnis: Ich bin wertlos. Der Hund gab mir plötzlich einen Sinn«, sagt Grobman. Nun ist er ein freier Mann – und hauptberuflich Programm-Direktor von Paws for Life.
Das Programm ist in den vergangenen sieben Jahren enorm gewachsen: Es hat inzwischen fast 700 Hunde gerettet, wobei alle ein Zuhause fanden, es funktioniert in derzeit drei Gefängnissen und beschäftigt 185 Gefängnisinsassen als Trainer. Aber der überraschendste Erfolg ist vielleicht der Effekt, den das Programm auf die Zweibeiner hat: 40 Teilnehmern gelang es seither, begnadigt zu werden und trotz ihrer Lebenslang-Urteile vorzeitig entlassen zu werden.
Der Start mit Beißer Oreo sei »eine Katastrophe« gewesen, sagt Initiatorin Alex Tonner, doch sie lernte aus den chaotischen Anfängen: Aggressive Hunde kommen nicht mehr ins Programm. Professionelle Trainer besuchen die Insassen mehrmals die Woche, um sie und die Hunde weiterzubilden. Und auch Tonner geht es längst nicht mehr nur um das Hundetraining. 25 Prozent der Gefängnisinsassen weltweit befinden sich in den USA, das entspricht 2,3 Millionen Menschen. »Das Gefängnis ist geprägt von Rassismus, Gewalt und Aggressivität«, sagt Grobman. Die größte Herausforderung sei nicht, den Hunden Sitz und Platz beizubringen, sondern die Atmosphäre zu ändern. Zwei oder drei Insassen kümmern sich immer gemeinsam um einen Hund. Wenn er ein Team zusammenstelle, bringe Grobman »absichtlich einen Weißen, einen Schwarzen und einen Latino zusammen«, erklärt er. »Ich sage ihnen: Der Hund kommt an erster Stelle. Da müssen sie zusammenarbeiten und lernen, einander zu respektieren«. Ein Gefängnisaufseher bestätigt: »Die Insassen sind völlig anders hier, respektvoll, es ist eine ganz andere Welt.«
Mittlerweile hat das Programm auch prominente Unterstützer, der Musiker John Legend begleitete in diesem Sommer einen Dokumentarfilm darüber: Shelter Me. Darin sieht man Grobman, wie er den ehemaligen kalifornischen Gouverneur Jerry Brown besucht und ihm die Dankesbriefe der Insassen überreicht, die Brown begnadigt hat. Im Film nennt Brown Paws for Life »einen wichtigen Teil der Gefängnis-Reform. Es zeigt, dass die meisten Leute eine zweite Chance ergreifen, wenn man sie ihnen bietet, und das hilft ihnen, der Gemeinschaft und den Hunden«.
Paws for Life bietet inzwischen sogar ein Service-Dog-Programm an, das Hunde sechs bis zwölf Monate im Gefängnis darauf vorbereitet, einem Kriegsveteranen oder Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung zu helfen. »Verletzte Menschen verletzen Menschen«, sagt Grobman. »Etliche Häftlinge wuchsen in gewalttätigen Familien auf oder wurden missbraucht. Es geht darum, den Teufelskreis zu durchbrechen. Viele hatten niemanden, dem sie vertrauen konnten. Mit den Hunden zu arbeiten, schenkt ihnen wieder einen Lebenssinn – und Liebe.«
200 Insassen stehen inzwischen auf der Warteliste. Die Teilnahme an dem Programm ist ein Bonus, den kein Gefangener verlieren will
Tonners und Grobmans Vision ist, dass andere Gefängnisse das Programm übernehmen. Tatsächlich gibt es bereits Dutzende Hunde-Programme in anderen Staaten, aber oft mit einem anderen Schwerpunkt, zum Beispiel Puppies Behind Bars in New York. Da trainieren Gefängnisinsassen Hundewelpen ab acht Wochen als Begleithunde für Rettungseinsätze oder als Bombenspürhunde für die Polizei. Aber 2018 machte ein tödlicher Zwischenfall in einem anderen Hundeprogramm Schlagzeilen: Ein Gefängnisinsasse in Ohio prügelte einen jungen Schäferhund nachts in seiner Zelle zu Tode. Die Hundeorganisation dort beendete unverzüglich das Programm. Tonner beteuert, in ihrem Programm habe es bislang nie Gewalt gegeben. »Ich habe einmal einen Insassen aus dem Programm abgezogen, weil der die Leine zu streng hielt«, sagt sie. Nur Insassen, die mindestens zwei Jahre lang null Disziplinarverstöße hatten, dürfen sich überhaupt bewerben und werden dann ausführlich interviewt. Gefangene, die wegen Kindesmisshandlung oder Tierquälerei einsitzen, werden von vornherein ausgeschlossen. 200 Insassen stehen inzwischen auf der Warteliste. Die Teilnahme an dem Programm ist ein Bonus, den kein Gefangener verlieren will. »Pfoten hoch!«, rufen alle Insassen und strecken die Arme in die Höhe, wenn ein Hund erfolgreich seine Abschlussprüfung absolviert oder ein Insasse freikommt.
Grobman besucht regelmäßig seine früheren Zellenkollegen hinter den Stacheldrahtzähnen. Manchmal setzt er sich in seine alte Zelle mit der Nummer 135 und schüttelt den Kopf. »Am Anfang habe ich jedes Mal geweint, wenn ich das Gefängnis wieder verließ«, sagt der bullige Mann. »Ich hatte Schuldgefühle, weil es so viele Männer hier drin gibt, die eine zweite Chance verdienen.« Er ist besonders stolz darauf, dass bislang keiner der Paws-for-Life-Teilnehmer, die frei kamen, rückfällig wurde. Viele nutzten die Trainingserfahrung im Gefängnis, um sich draußen eine Existenz als Hundetrainer oder Tierarztassistent aufzubauen.
Grobman selbst hat noch etwas anderes aus dem Gefängnis mitgenommen. Als er nach elf Jahren in Lancaster seine »Recall of Commitment«-Anhörung hatte, war der Richter so beeindruckt von Grobman, dass er ihn auf der Stelle frei ließ, sogar ohne Bewährungsauflagen. »Zehn Stunden später stand ich mit meinem Vater und meinem Anwalt auf der Straße und heulte wie ein Schlosshund«, sagt Grobman. »Ich konnte es nicht fassen.« Doch zu der Zeit kümmerte er sich um den Belgischen Malinois Mallie, der halbverblutet auf den Straßen von Los Angeles mit zwei Schusswunden in der Brust gefunden worden war. Grobman hate ihn in seiner Zelle wieder aufgepäppelt. Als Grobman nicht zurückkam, hörte Mallie auf zu essen. Die Gefängnisleitung sah keine andere Möglichkeit, als den Hund zu Grobman in die Freiheit zu schicken. »Ich hatte Alex zuvor immer gesagt: Jeder Hund, der das Gefängnis verlässt, nimmt ein Stück meines Herzens mit.«