Wir leben in Zeiten des Designterrors, und um das zu erkennen, muss man gar nicht zur Mailänder Möbelmesse fliegen; es reicht schon, mit dem Auto quer durch Deutschland zu fahren: Der gute Geschmack ist überall, es ist ein Grauen. Man kann ja nicht mal mehr sicher sein, ob man in einem Berliner Club ist oder auf der Autobahn kurz hinter München, wo sich links und rechts zwei aufgeschnittene Röhren so schick über die Fahrbahn wölben, als wollte hier jemand um einen Artikel in Wallpaper betteln und nicht einfach Lärmschutz betreiben. Selbst die Blitzsäulen, die an der A9 am Hermsdorfer Kreuz montiert sind, glänzen so schwarz und edel, als seien sie von Muji. Und im McDonald’s von Schleiz, wo sich die jugendlichen Tätowierten mit ihren Opels treffen, sieht es dank den mokkabraunen Lederlounge-Sesseln und dem dunklen Holzfurnier aus wie im Teesalon des »Hotel de Rome« mitten in der Hauptstadt.
Der früher einmal notwendige Versuch, dieses Land ein wenig schöner zu machen und damit auch moderner, ist außer Kontrolle geraten. Es gibt heute nicht mehr zu wenig Design, es gibt zu viel. Aber was hat es eigentlich zu bedeuten, dass unsere Zwei-Sterne-Wirklichkeit dauernd so tut, als sei sie ein Fünf-Sterne-Hotel?
Der Designwahn unserer Tage hängt damit zusammen, dass die Dinge und auch die Orte ihre Funktion verlieren – und sich in die Form retten. Beim Friseur sieht es aus wie in einer Galerie, rauer Beton, viel Glas, niedrige Sitzbänke, alles muss ja möglichst niedrig sein, bodennah, irgendwo zwischen Sitzen und Liegen. Beim Zahnarzt ist es wie im Coffeeshop, die gleiche Musik, das gleiche schummrige Licht, die gleichen Magazine, alles muss ja möglichst angenehm sein, einlullend, irgendwo zwischen Träumen und Wachen.
Und in der Apotheke gibt es Zahnbürsten, die sehen aus, als seien sie nicht für die persönliche Hygiene, sondern für einen Extremsport entwickelt worden.Sind das also wirklich schon Zeichen des Verfalls im Spätkapitalismus? Oder ist es eher ein Sieg der demokratisierten Schönheit?
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Früher jedenfalls, daran kann man schon mal erinnern, war gutes Design dafür da, die Dinge einfacher, klarer, funktionaler zu machen; heute zieht sich durch unseren Alltag eine mal kaffeebraune, mal grellbunte Schmierspur des Designs, die die Dinge unter sich begräbt und kaum noch unterscheidbar macht. Ist das ein Toaster oder ein Rucksack, ist das eine Regenjacke oder ein Windsurfsegel, ist das ein Kinderwagen oder medizinisches Fachgerät?
Nichts will sein, was es ist. Alles will mehr sein. Die Funktion wird ersetzt durch die Fiktion, durch eine Geschichte, die ein Lebensgefühl erzeugen oder wenigstens simulieren soll. Wo die Welt immer virtueller wird, werden die Dinge immer wichtiger: das Greifbare, Formbare, Schöne. Aber auch das reicht eben nicht, es muss noch etwas dazukommen, etwas wie Sinn, etwas wie Bedeutung. Denn das ist Design heute: Lebensersatz, Schutz vor der Wirklichkeit, Erfindung einer Ersatzwirklichkeit. Wie ein Panzer stülpt sich die Form um die Dinge.
Blasen und Schäume, sagt der Philosoph Peter Sloterdijk, sind die Zustandsformen, in denen sich unsere Gegenwart wiederfindet, blubbernd, ein einziger dauernder Übergang im Abschied von der rationalen Moderne – und so ist es kein Wunder, dass der Designwahn zeitlich und manchmal auch örtlich zusammenfällt mit dem Moment, als die Latte Macchiato in unser Leben getreten ist, dieses schäumende Übergangsgetränk, nicht ganz Kaffee, nicht ganz Milch, irgendwas zwischen Aufwachen und Einschlafen.
Es sind solche Zwischenformen, Zwischenzustände, Zwischenräume, die unserer Zeit Gestalt geben. Das Hybride ist ein Zeichen der Epoche. Und das überall wuchernde Design ist damit beides, Symptom und Ursache, Symbol der Unsicherheit und Suche nach einem Ausweg.
Form folgt der Funktion, das galt im 20. Jahrhundert; Form folgt der Fiktion, das gilt im 21. Jahrhundert. Design ist das neue Opium fürs Volk.
(Fotos: Bildband Over von Alex MacLean - Schirmer/Mosel-Verlag)